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Band 5: Die Rückkehr aus Syrakus

Die Rückkehr aus Syrakus

Essays

Alle Aussagen in diesen Essays sind perspektiviert,
auch wo sie direkten Aussagen des Autors ähneln mögen.
Nichts, was der Autor geschrieben hat,
gibt seine eigene Meinung wieder.

Die Differenz

Eine der grundlegenden Errungenschaften des abendländischen Geistes war ein spezifischer Begriff der Differenz, der in seinen Ausdifferenzierungen konstitutiv wurde für die neuzeitliche europäische Wissenschaft, Philosophie, Kunst, Literatur und Politik.

Die Methode der empirischen Wissenschaften und der kritischen Philosophien – wie auch schon das renaissance-humanistische Menschenbild als deren Ausgangspunkt – beruht auf der Spaltung des Menschen in ein Erkenntnisobjekt (unter allen anderen) und in das Erkenntnissubjekt, das alle objektive Erkenntnis hervorbringt; die europäischen bildenden Künste gründen auf der Distanz zwischen Bild und Abgebildetem (auf der »Distanz von Bild und Mensch«, wie Horst Bredekamp, umfassender, formuliert); die Literatur als europäische Kunstform bedingt die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler – wie auch der freie politische Journalismus, zugleich Keim und Frucht von Aufklärung und Demokratie, die Unterscheidung zwischen journalistischer und persönlicher Meinung bedingt; und demokratische Politik im aufgeklärten Sinne selbst setzt die Nicht-Identität von Amt und Person, respektive Citoyen und Bourgois, voraus.

Ein Echo dieses epochalen Differenzbegriffs begegnet in den politischen Schriften Thomas Manns, aus denen ich im Jahr 20051 den Begriff der vermittelnden Trennung destillierte:

»Die Gefahr einer ›Ästhetisierung der Politik‹, die er durch die schonungslose ›Selbsterforschung‹ der Betrachtungen eines Unpolitischen in seinem eigenen Denken aufgefunden hatte, floh Thomas Mann nun allerdings nicht, indem er sich schlicht der bisher bekämpften ›Politisierung der Kunst‹ unterworfen hätte, die ihm, zur bedingungslosen Konversion lockend, die allerletzte Gelegenheit bot, seiner Selbstüberwindung auszuweichen; nein: sich zu einempolitisierten Künstler wandelnd, wodurch er diese Gefahren und Versuchungen bannte, vollendete er vielmehr eine in den Betrachtungen und deren zentraler Erkenntnis bereits angebahnte neuartige Trennung von Geist (soll heißen: Kunst, ›Speku-

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lation‹, ›Erkenntnis‹) und Politik – eine Trennung, verstanden als hochreflektierte Vermittlung zwischen zwei aufeinander bezogenen, polaren Sphären, deren antithetische Gesetzlichkeiten in der jeweils anderen verwerflich wären, deren durchdringende Vermischung in beiden Verwerfungen zeitigte: eine vermittelnde Trennung von ästhetisch-spekulativem Geist und Politik, die als kontrollierte Vermischung zu bezeichnen kaum weniger treffend wäre. Wenn Thomas Mann danach in verschiedenerlei politischen und autobiographischen Essays sein ›demokratisches Bekenntnis‹ mit der Einsicht identifiziert, daß eine Trennung von Geist und Politik unmöglich und unstatthaft sei, so richtet er diesen einsichtigen Vorwurf (wie der Wortlaut ein ums andere Mal impliziert) gegen ebenjene unhaltbare alt-deutsche, unpolitische ›Haltung‹, in der Geist und Politik ›reinlich‹ getrennt erscheinen, in der man von Politik ›nichts weiß und nichts wissen will‹, in der es notwendig, moralisch, vornehm, möglich scheint, jegliche osmotische Verbindung zwischen dem ›totalisierten‹ ›Geist‹ und der ›negierten‹ Politik inniglich zu verleugnen, sich – ›reiner‹ Geistes-, reiner ›Kulturmensch‹ – quasi aus hygienischen Gründen gegen die Politik zu ›isolieren‹, sich um sie nicht zu ›bekümmern‹, über die Sphäre des Politischen hochfliegend und weltvergessen, ›politiklos‹, ignorant und ›verachtungsvoll‹ hinwegzusehen (so daß dieses im Geistigen latent bleibt, um ›unter Weltumständen wie den gegenwärtigen‹ unwillkürlich und unvermittelt, den unpolitisch-ästhetisch-spekulativen Gesetzen naiver, reinlicher ›Geistesbürgerlichkeit‹ gehorchend, manifest zu werden), – gegen jene tatsächlich unmögliche (illusionäre) alte, deutsche unpolitische Trennung von Geist und Politik also, die in Wahrheit nicht nur unter Umständen, sondern notwendig in eine ›Ästhetisierung der Politik‹ mündet, irgendwann politisches Denken in ästhetischen Kategorien erzwingt; oder etwa insgeheim immer ›Ästhetisierung der Politik‹ bedeutet? Da sogar die Weigerung, politisch zu denken, schon einer ästhetisch inspirierten politischen Handlung gleichkommt? (›Man kann nicht unpolitisch sein, man kann nur antipolitisch sein […]‹) Die neuartige Trennung von Geist und Politik dagegen, mit der Thomas Mann seine Selbstüberwindung zum politisierten Geistesmenschen vollendete (und die er, längst politisch engagiert, im Jahre 1929 im wegweisenden Essay über Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte als konsequenteste Ausdeutung seiner seit 1917 waltenden ›zentralen Erkenntnis‹ besonders eindringlich darlegte), befreit aus ebenjener alten, einseitigen, unhaltbaren Haltung des ›reinen‹ Geistesmenschen, – ohne indes die spiegelbildliche Einseitigkeit zu befördern –, indem sie beiden Sphären, dem ästhetisch-spekulativen Geist wie der Politik, die jeweilige Eigengesetzlichkeit beläßt, beide Sphären somit gleicher-

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maßen zur Geltung, zur Entfaltung, zu Ansehen und Einfluß bringt (›[…] man […] kann nicht etwa als Politiker existieren ohne von geistigen Dingen etwas zu wissen, oder als Ästhet, als reiner Künstler, indem man sich um soziale Gewissenssorgen den Teufel etwas kümmert‹) und zugleich zwischen den beiden selbstbewußten Welten reflexiv vermittelt, als Instanz höchstdifferenzierter Selbstreflexion, die wechselseitige Vermischungen zulassen, doch skrupulös, mit größtmöglicher Kompetenz ›nach beiden Seiten hin‹, kontrollieren muß, so daß jedwede unbedachte, undifferenzierte, unvermittelte Übernahme von Geistigem in die Politik oder von Politischem in den Geist, namentlich jede Usurpation der einen durch die andere Sphäre, jede bösartige ›Ästhetisierung der Politik‹ ebenso wie jede durchdringende ›Politisierung der Kunst‹ verhindert wird. Nur vermittels dieser neuen, modernen, politischen Trennung von Geist und Politik kam Thomas Mann, der nunmehr politisierte Dichter, in den Stand, seiner ›Sympathie mit dem Tode‹ als dem ästhetischen Grund seiner Dichtkunst verbunden zu bleiben und sich gleichzeitig – nicht dennoch, sondernaus diesem Grunde – in der Politik zu ›freier‹ ›Lebensfreundlichkeit‹ zu lösen. […] Es wohnt also nicht in seinen Romanen, Erzählungen und Essays ein ›vertrauenswürdigerer‹ Thomas Mann als in seinen politischen Streitschriften – und auch nicht umgekehrt: Thomas Mann spricht hier wie dort wahrhaftig. Denn die Erkenntnis, daß das Politische ein integraler ›Teil des Humanen‹ ist, den in seiner ›monoskopischen‹ Eigengesetzlichkeit zu verleugnen, die furchtbarste Inhumanität heraufbeschwören kann (›[…] wo wäre ich heute, auf welcher Seite fände ich mich […]‹): die Erkenntnis, daß der Mensch ›stereoskopisch‹ und ›monoskopisch‹ sehen lernen muß, weil sein stereoskopischer Blick sonst seinerseits monoskopisch entartet, während ein nur monoskopisch sehender Mensch schon immer der Hypokrisie, der Selbstgerechtigkeit und ›Rückfälligkeit‹ verfallen ist: diese (ab 1915 sich ausformende) bahnbrechende Erkenntnis wurde ein integraler Teil von Thomas Manns Moralität, die sowohl in seinen stereoskopischen (ästhetisch-erkenntnissuchend-seinsmäßig verfaßten) Romanen, Erzählungen und Essays als auch in seinen monoskopischen (moralisch-politisch-meinungsmäßig verfaßten) demokratischen Streitschriften Gestalt gewinnt. […] In seiner Kunst gibt sich Thomas Mann der ›Sympathie mit dem Tode‹ hin (›Erkenntnis aber ist für einen Künstler auf keine andere Weise zu gewinnen, als durch Hingabe‹), um sie immer wieder aufs neue in ›Lebensfreundlichkeit‹ zu überwinden; in seiner Politik dagegen regierte – sonst wäre auch diese eine ›vom Tode gezeugte und todesträchtige Lebensfrucht‹ gewesen! – allein die

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›Lebensfreundlichkeit‹ (›Wenn ich einen Wunsch für den Nachruhm meines Werkes habe, so ist es der, man möge davon sagen, daß es lebensfreundlich ist, obwohl es vom Tode weiß. Ja, es ist dem Tode verbunden, es weiß von ihm, aber es will dem Leben wohl. Es gibt zweierlei Lebensfreundlichkeit: eine, die vom Tode nichts weiß; die ist recht einfältig und robust, und eine andere, die von ihm weiß, und nur diese, meine ich, hat vollen geistigen Wert. Sie ist die Lebensfreundlichkeit der Künstler, Dichter und Schriftsteller.‹)«

Die Rückkehr aus Syrakus wurde möglich aus diesem fragmentarischen Kern. Alle hier versammelten fünfzehn Versuche bewegen sich um den Ausgangspunkt, den Thomas Mann in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« bezogen hat:

Fortsetzung folgt

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Mit der Kompilation der editio nigra wurde auch ein altmenschlicher Begriff dem entrückten Akastell entlockt, der ebensolange wie die altradikalen Gespräche aus der Diskursgemeinschaft ausgelassen war: der Begriff des »romanesken Essays«. Nach dem etwaigen Kompilator der »Rückkehr aus Syrakus« begreift der von einem oder mehreren altmenschlichen Autoren geprägte Begriff ein Essay, das nicht für sich selbst, sondern in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zu den anderen Teilen eines Romans steht, im Falle der fünfzehn romanesken Essays der »Rückkehr aus Syrakus« zu den anderen Teilen der editio nigra, in denen alle fünfzehn Romaneskessays dieser- oder wandelgestalt als Perspektiven der Bedingungs- und der Zeugungszeit der Sphärischen Sprache wiederkehren oder vorausgehen.

»Sobald wir etwas edieren, entwerten wir es seltsam«, sprach – wandelt ein Gerücht unter den eingegangenen Forschern und Künstlern des Akastells – ein vergessener Editor. »Wir glauben, in die Tiefe der Abgründe hinabgestiegen zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht das Staubkorn an unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr der Höhlenwelt, der er entstammt. Wir wähnen, eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.«

Diese aus dem unterirdischen Bunker aufgetauchte Glasperle ist autorisiert wie der Fragestein, den wir mit der Edition der »Rückkehr aus Syrakus« als Band 5 der editio nigra aufwärtsgeschöpft haben und der trotzdem noch unverändert im Finstern schimmert: Sind die 15 Essays romanesk, i.e. bedingungs- und zeugungsperspektivisch, wer hat sie dieserfalls in welchem Jahr der alten Menschheit kompiliert? Intuieren Diejenigen, die unsere Begriffe noch nicht vergessen haben, daß dieser Fragestein (und darüberhinaus etwa auch jener) einst schon in die altradikalen Gespräche aufgetaucht worden war?

Herausgeber LK2199nlpz
Stadt 1,
im Jahr 800 d.N.M.,
n. a. Z.: 1517 p.r.,
M84067T84355

Die Rückkehr aus Syrakus

Ankunft in Syrakus

»Stahlblau und leicht, bewegt von einem leisen, kaum merklichen Gegenwind, waren die Wellen des adriatischen Meeres dem kaiserlichen Geschwader entgegengeströmt, als dieses, die mählich anrückenden Flachhügel der kalabrischen Küste zur Linken, dem Hafen Brundisium zusteuerte …«

So wie Hermann Broch die Ankunft des Vergil in Brundisium imaginiert, wo der Dichter der »Äneis« sein Leben in einer letzten Begegnung mit dem Kaiser Augustus vollenden soll, in dessen Geschwader er reist, so könnte man sich, wiederum verwandelnd, auch die Ankunft Platons im Großen Hafen von Syrakus imaginieren, wo der Philosoph, Autor der »Politeia«, dreieinhalb Jahrhunderte vor Vergil, zu seiner großen Begegnung mit dem Tyrannen anlandete. Platons sizilianisches Abenteuer, namentlich sein zweiter und sein dritter syrakusanischer Aufenthalt in den sechziger Jahren des 4.Jahrhunderts v. Chr., ist das welthistorische Gleichnis von der gefahrvollen Annäherung des Geistes an die Macht. »Zurück aus Syrakus?« wurde Martin Heidegger von einem schöngeistigen Kollegen gefragt, als er 1934 aus seinem gescheiterten nationalsozialistischen Abenteuer in den Elfenbeinturm heimkehrte. Es ist aber auch, allgemeiner, eine Geschichtsallegorie auf das Verhältnis zwischen Geist und Politik. Dieses Verhältnis, – das, was sich zwischen dem Geistesmenschen, dem Künstler und dem Politiker erstreckt –, ist Gegenstand des vorliegenden Essais.

Eine alte Geschichte, gewiß; es soll hier diese epochendurchrankende Fabel mit ihren unüberschaubaren, unentwirrbaren Verästelungen nicht weiterverfolgt werden; Ziel dieses Versuchs soll vielmehr sein, durch ein herausgehobenes zeitgeschichtliches Beispiel: die republikanische Wende Thomas Manns (seine Wandlung, zwischen 1915 und 1925, vom »unpolitischen« Apologeten der innerlichen deutschen Kunst und des autoritären Staates zum »politischen« Apologeten der Republik und der politisierten Literatur), einen zukünftigen Blick auf das Verhältnis zwischen Kunst und Politik zu riskieren, das heute keineswegs endgültig oder auch nur zeitgemäß erkannt ist. Ganz im Gegenteil scheint es, als hätte Thomas Mann selbst seine republikanische Wende, die als zentrale geistesgeschichtliche Wegscheide

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des 20.Jahrhunderts zu bezeichnen sicher nicht fehlgeht, fehlanalysiert und dadurch den deutschen Geistesdeutern der Nachkriegszeit bis heute ihren Weg gewiesen. Die republikanischen Selbstdeutungen Thomas Manns, endlich eindringlicher betrachtet, zeugen für die Geburt des größten Irrtums seiner geistigen Existenz und deuten darauf hin, daß dieser wirkungsreichste deutsche Politische zeitlebens, nicht nur in den Tagen der »Betrachtungen eines Unpolitischen«, politisch (und ästhetisch) auf dem Holzweg war.2

Innerlichkeit

Eben weil sie schön ist,
ist die Ermordung des jungen Mädchens so schrecklich.
Milan Kundera, Verratene Vermächtnisse

In seinem – postmodern betitelten – Aufsatz »Der edle Hecker, unsere Geschichte, wir beziehungsweise du oder ich« skizziert Martin Walser »die Herrschaft der Moderne«, die, »totalitär tendierend«, das 19.Jahrhundert, vordringlich das romantische 19.Jahrhundert, »abgemeldet« habe. Ebenso augenfällig wie das Bedürfnis der Moderne3, radikal und rücksichtslos mit den ästhetischen Konventionen des 19.Jahrhunderts zu brechen, ist jedoch die traditionelle Verbundenheit ebendieser Moderne mit ebendiesem 19.Jahrhundert – und am verbindlichsten tradierte sie, die unromantische klassische Moderne, aus dem romantischen 19.Jahrhundert. Einem künstlerischen Gebot folgend, ohne das die einsamen Gipfelrouten der Kunst, denen hier nachgespürt werden soll, ungangbar wären, dem Gebot nämlich, alles, jeden Gedanken, jede Figur, jedes Motiv, bis zur Neige auszukosten, könnte man behaupten: Romantik und Moderne seien, in einem Magnetfeldgewölbe, die beiden sich gegenseitig bedingenden Pole einer einzigen, unteilbaren Epoche.

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Was verbindet die Moderne mit der Romantik? Es wäre voreilig, Offensichtliches heranzuziehen: etwa den Aufbruch der musikalischen Moderne im spät- und metaromantischen Werk Richard Wagners – oder den nicht nur äußerlich, nicht nur seinen Lebensdaten nach, der Moderne eingewachsenen neuromantischen Ästhetizismus, der historisch im Ersten Weltkrieg, literarisch auf dem »Zauberberg«, musikalisch auf dem Wiener Zentralfriedhof, unter dem Ehrengrabstein Hans Pfitzners († 22.5.1949), und endgültig unter den Trümmern Berlins begraben wurde. Nein: Zwei ineinanderverwobene Wesensverknüpfungen machen Moderne und Romantik als die beiden Gesichter einer janusköpfigen Geistesgestalt deutlich: ihrer beider Bekenntnis zu einer Kunstreligion, deren Kultus die Kunst als ein Erkenntnismittel offenbarte, sowie – ihrer beider Innerlichkeit.

Innerlichkeit, so das »Sachwörterbuch der Literatur«, sei die Abwendung von der Außenwelt und den Umwelteinflüssen zu den inneren Erfahrungen und Reichtümern der Seele, zur Besinnung und inneren Sammlung. Ergreifender und mitreißender freilich, und dabei ebenso treffend, sind jene Erleuchtungen der Innerlichkeit, dieses angeblich so deutschen Seelenphänomens, die der größte Seher der deutschen Seele, die Thomas Mann aussandte: »Zartheit, der Tiefsinn des Herzens, unweltliche Versponnenheit, Naturfrömmigkeit, reinster Ernst des Gedankens und des Gewissens, kurz alle Wesenszüge hoher Lyrik mischen sich darin, und was die Welt dieser deutschen Innerlichkeit verdankt, kann sie selbst heute nicht vergessen: Die deutsche Metaphysik, die deutsche Musik, insonderheit das Wunder des deutschen Liedes […].« Und: »Worin besteht diese Tiefe? Eben in der Musikalität der deutschen Seele, dem, was man ihre Innerlichkeit nennt, das heißt: dem Auseinanderfallen des spekulativen und des gesellschaftlich-politischen Elements menschlicher Energie und der völligen Prävalenz des ersten vor dem zweiten.«

Die völlige Prävalenz des spekulativen vor dem gesellschaftlich-politischen Element: Diese Bestimmung von Innerlichkeit, die tiefsinnigste, die je gegeben wurde,4 eröffnet aber folgenden Schluß: Wenn Spekulation (die über die erfahrbare Wirklichkeit hinausgehende Gedankenführung) innerlich wäre und Metaphysik (die Suche nach den hinter der natürlichen Welt liegenden letzten, ersten Gründen und Wesenszusammenhängen alles Seins) eine Frucht der Innerlichkeit, dann wären nicht nur die romantischen Versenkungen und Erkundungsabstiege in die unbewußten Seelen-

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gründe, sondern es wäre, weit allgemeiner, alles romantische Suchen und Streben nach dem Dunklen, dem Verborgenen, dem Geheimnis des Lebens, seinen untergründigen Quellen, nach dem, was unter der Oberfläche der Dinge wogt, nach dem Ursprünglichen, dem Uranfänglichen, dem All-Einen, dem Mutterschoß, dem Tod, dem Goldenen Zeitalter, letztlich alle romantische Vergangenheitsbeschwörung: Innerlichkeit: Seelensuche. Alles, – und müßte uns dies heute nicht längst Allgemeinplatz sein? –, alles, was der Mensch jemals hinter den Erscheinungen, jenseits der sinnlich erfahrbaren Welt, unter aller Oberfläche erkennen kann, wäre immer nur das, was unwahrnehmbar, jenseits seiner Introspektionsgefilde, unbewußt in ihm selbst liegt: Sobald er ins Dunkle der Dinge taucht, taucht der Mensch ins Dunkle seiner selbst – und umgekehrt. Und genau hier begegnet die romantische Innerlichkeit der Moderne: Denn wollte man dem unüberschaubaren, labyrinthischen Geäder des gewaltigen Strömungssystems der Moderne zu seinen Zusammenflüssen folgen, so müßte man als das Wesentliche der modernen Kunst, als ihre Quelle, die Wendung nach innen postulieren, den Drang, die Oberfläche zu zerreißen oder zu transluzieren (oder zu transzendieren), um zum unsichtbaren Kern aller Dinge vorzudringen; alle Zuflüsse, alle Nebenarme, alle Wasser der Moderne – die Neue Musik, die »Emanzipation der Dissonanz«5, der Expressionismus, der Kubismus, die Abstraktion, der Surrealismus, der Amazonas des modernen Romans, James Joyce, Marcel Proust, Franz Kafka, Rainer Maria Rilke, Virginia Woolf, John Dos Passos, William Faulkner, Juan Carlos Onetti, Witold Gombrowicz, Robert Musil, Hermann Broch – münden dort, wo das Ungeschaute schaubar wird, wo die jenseitigen Quellen des Menschseins den Horizont erzeugen: An den Gestaden des Okeanos, an die das Element des Innersten brandet, öffnet sich das Delta der modernen Künste. Und als das Paradigma dieser paradoxen modernen Innerlichkeit wirkt das Zentralwerk der Moderne, der »Ulysses«, die Odyssee durch die bewußte, vorbewußte, unbewußte menschliche Innenwelt. In der modernen Innerlichkeit vollendet sich die romantische – nicht allein deshalb, weil sich die romantische künstlerische Seelenkunde in der Moderne zu einer Wissenschaft vom Unbewußten aufwirft, wodurch der Kunst gleichsam ein neuer Ankerplatz auf offenerer See zuwächst, sondern vor allem, weil die moderne Innerlichkeit die Erkenntnis, daß das Innerste des Menschen sich

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im Innersten der Welt wiederholt, völlig absorbiert6 und so die Kunst zum ersten Mal in ihrer Geschichte ganz mit sich selbst zur Deckung gebracht, identifiziert hat als ein der Wissenschaft gleichrangiges Erkenntnismittel. Erst eine Kunst, die sich ihrer Offenbarungsmacht durchgängig vergewissert hat, kann sich als autonomes Erkenntnismittel emanzipieren, und es darf nicht wundernehmen, daß dieser Prozeß der Selbstvergewisserung und Selbstemanzipation der Kunst identisch ist mit jenem der Vollendung der romantischen Innerlichkeit in der modernen: Existiert doch im Universum des Menschen nur ein einziger Kosmos, den zu erhellen ausschließlich die Kunst Mittel besitzt: der Kosmos, der sich im Innersten des Menschen erstreckt, der Kosmos der menschlichen Seele.

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Das Ungreifbare

An dieser Stelle nun gilt es, endgültig und unwiderruflich, die beiden gewichtigsten Gewährsmänner herbeizuzitieren, auf die sich eine aus der Innerlichkeit entwickelte Theorie der Kunst als Erkenntnismittel berufen kann: Hermann Broch und Milan Kundera.

Broch: »Seit jeher und immerdar steht die menschliche Seele unter dem Gebot, ihre eigene untergründige Irrationalität auszuloten, und es ist vornehmlich gerade dieser Zwang, der den Menschen zu schaffendem Künstlertum befeuert. Durch das Kunstwerk, und insonders durch jenes der dichterischen Schöpfung, die durch die magische Spannung zwischen den Worten und Zeilen mehr auszusagen vermag als das bloß Nennbare es kann, ist dem Menschen eine Annäherungsmöglichkeit an die ihm zu tiefst innewohnende immanente Logik gegeben.«

»Problemkreis: er ist von der Überzeugung bedingt, daß das autonome und unantastbare Reservatgebiet des Dichterischen in jener tiefsten irrationalen Schichte, in jener wahrhaft panischen Region des Erlebens gegeben ist, dunkles traumhaftes Geschehen, in dem der Mensch bloß gesteuert von Uraffekten, kindlichen Haltungen, Erinnerungen, erotischen Wünschen, tierhaft und zeitlos dahintreibt. Denn in diesen Regionen versagt der rationale und wissenschaftliche Ausdruck, das Wort gilt nicht mehr in seiner Eigenbedeutung, nur mehr mit seinem wechselnden Symbolcharakter, und das Objekt muß in der Spannung zwischen den Worten und Zeilen eingefangen werden.«

Kundera: »Der Roman ist dem Menschen seit Beginn der Neuzeit ein beständiger und getreuer Begleiter. Die ›Leidenschaft des Erkenntnisstrebens‹ (die Husserl für das Wesen der europäischen Geistigkeit ansieht) hat sich seiner bemächtigt, damit er das konkrete Leben des Menschen erforscht und es vor der ›Seinsvergessenheit‹ schützt; damit er die ›Lebenswelt‹ in eine immerwährende Beleuchtung hält. In diesem Sinne verstehe und teile ich den Eigensinn, aus dem Hermann Broch wiederholte: Die einzige Daseinsberechtigung eines Romans liegt darin, zu entdecken, was einzig ein Roman entdecken kann. Der Roman, der nicht einen bis dahin unbekannten Teil der Existenz entdeckt, ist unmoralisch. Erkenntnis ist die einzige Moral des Romans. […] Der Romancier ist weder Historiker noch Prophet: Er ist Erforscher der Existenz.«

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»Tief und heftig verabscheue ich seit jeher alle, die in einem Kunstwerk eine (politische, philosophische, religiöse) Haltung finden wollen, statt danach zu fragen, ob das Werk eine Absicht zu erkennen, zu verstehen, einen bestimmten Aspekt der Realität zu erfassen, enthält.«

Die Kunst – alle Künste: die Literatur, die Musik, die bildende Kunst, der Film – ist ein Mittel zur Erforschung, zur Erkenntnis der menschlichen Existenz; und was die Kunst über alle anderen der menschlichen Existenz zugedachten Erkenntnisinstrumente erhebt, über die Philosophie etwa, die Soziologie, die Psychologie, die Humanbiologie, was die Kunst über die Wissenschaft erhebt, ist ihr einzigartiges Vermögen, in den Kern der menschlichen Existenz hinabzuloten, dorthin, wo keine rationale, wissenschaftliche, begriffliche, logische, absolute, exakte, eindeutige Erkenntnis mehr möglich ist, nur noch eine irrationale, schöpferische, begriffslose, alogische, relative, geheimnisvolle, vieldeutige, undeutliche, unausdeutbare, widerspruchsvolle, ambivalente, schillernde, paradoxe, – der Kunst exklusives Vermögen also, in den Wesenskern der menschlichen Existenz hinabzuloten: ins Ungreifbare.

Und das Ungreifbare, der Wesenskern der menschlichen Existenz, das, was allen Phänomenen, Erscheinungen, Dingen, allen Aspekten der menschlichen Existenz, aller Oberfläche zugrundeliegt, – wohin keine rationale Erkenntnis reicht –, ist ebendas, was im Innersten des Menschen west und sich im Innersten der Welt, der Menschenwelt, wiederholt: die menschliche Seele, die alles, wozu dem Menschen eine Beziehung erwächst, mit ihrer ungreifbaren Transzendenz beseelt.

Bereits ein andeutungsweiser Vergleich mit der Psychoanalyse mag veranschaulichen, wiefern die Kunst bei der Erforschung der menschlichen Existenz der Wissenschaft überhoben ist: Aus der dritten Vollendungsstufe der Innerlichkeit, jenen drei Glaubenssätzen der »Psychopathologie des Alltagslebens«, erhellt, daß die Lehre Sigmund Freuds geneigt ist, »mythologische Weltauffassung«, »übersinnliche Realität« »in Psychologie des Unbewußten zurückzuverwandeln«, »Metaphysik in Metapsychologie umzusetzen«, Mythos, Religion und Metaphysik, zugespitzt, in exakte empirische Wissenschaft »aufzulösen« – da die »dunkle Erkenntnis« des Unbewußten, die sich im konstruierten Übersinnlichen spiegele, »natürlich nichts vom Charakter einer Erkenntnis« habe; demgegenüber lehrt die Kunst, daß die künstliche Realität, die mythenhafte, übernatürliche, geheimnisvolle künstliche Realität, die vom Kunstwerk dargestellte menschliche Existenz, nicht mehr erkenntnisbringend reduzierbar, analysierbar, interpretierbar, daß aus

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ihr keine Erkenntnis mehr abstrahierbar ist, da nur in ihr, nur in der künstlerisch (vom einzelnen Kunstwerk) transzendierten natürlichen Realität, das Ungreifbare als letztmögliche Erkenntnis schaubar wird; nur in der künstlichen Realität – dem konkreten, kompletten, unveränderbaren Gesamtgefüge des einzelnen Kunstwerks (mit seinem Sichtbaren und seinem Unsichtbaren, seinem Dargestellten und seinem Erahnbaren, seinem Expliziten und seinem Impliziten, seinem Erklingenden und seinem Anklingenden, seiner Sinnlichkeit und seiner Übersinnlichkeit, seiner Klarheit und seinem Geheimnis, seiner Dichte und seiner Transparenz, seiner Immanenz und seiner Transzendenz, seinem Physischen und seinem Metaphysischen, mit seinen zahllosen und unausdeutbaren Bedeutungssphären, seinen zahllosen und unvereinbaren Zergliederungs- und Interpretationsmöglichkeiten) –, nur in diesem Paradoxkosmos der künstlichen Realität wird der Kern der menschlichen Existenz anschaulich, das Wesen alles Seins: Das Ungreifbare, das sich bei jedem Versuch, es aus der Kunst in eine andere Sphäre zu transponieren, es in einer außerkünstlerischen Sprache zu enträtseln, verflüchtigt, ist kein »rein Psychisches«7, auch kein »Metapsychisches«, vielmehr ein paradox metaphysisch-physisches, transzendent-immanentes Absolutum, in dem alles aufgehoben ist, das Innerste des Menschen ist das Äußerste der Welt: Es ist das Sein.

Die Kunst muß ihrer Eigengesetzlichkeit folgen – nicht den Gesetzen der Wirklichkeit, der natürlichen Welt, denen die Wissenschaft unterworfen ist –, um die verborgenen Wirklichkeiten zu erkunden, die nur ihr offenstehen. Denn diese Eigengesetzlichkeit, diese Autonomie, macht die wesenhafte Besonderheit aus, dank derer die Kunst, alleine unter allen Erkenntnismitteln, das Ungreifbare auszuloten vermag. Seine spekulative Eigengesetzlichkeit zwingt das Kunstwerk ins Innerste hinab, in sein eigenes Innerstes, ins Innerste des Künstlers, ins Innerste der menschlichen Existenz, ins Ungreifbare. Einem Kunstwerk, das sich seiner Eigengesetzlichkeit überläßt, das also innerlich-forschend ist insofern, als es das Zurückgehen seines Ausgangspunktes in sich selbst darstellt, will heißen: dessen spekulativ-dialektische Selbstbestimmung, – oder, unwissenschaftlich ausgedrückt: sich an seinem Ausgangspunkt mit einer lebenspendenden ätherischen Atmosphäre gegen die todbringende Außenwelt umhüllt, um sodann kraft aller inwendigen Elemente sich als Gegenkosmos zum Außenkosmos aus sich selbst zu gebären –, einem dergestalten Kunstwerk

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fließt durch seine Mittel, seine Medien (die Sprache, das Tonsystem, die Farbskala, das Material, die Szene) die innerste Innerlichkeit des Künstlers ein: Alles, was der Künstler ist, fließt darein, alles, was er jemals war, und alles, was er jemals sein könnte, alles, was er je erkannt, erschaffen, erlebt, erfahren, gehört, gesehen, gewußt, geglaubt, gefühlt, gedacht hat, gelesen hat, gesagt oder getan, begriffen und durchdacht, alles, was ihm je bewußt war, alles, was er je vergessen hat, verdrängt oder verschoben, alles, woraus der Künstler besteht, alles, was Teil von ihm ist, alles, woran er teilhat, alles, woran er je teilhaben könnte, alles, was ihm je bewußt werden könnte, alles, was unbewußt ist, alles, worin er gründet, alles, was in ihm, hinter, unter oder jenseits von ihm liegt, vor ihm liegen könnte, alles, was vor ihm war, in Gedanken, in der Tat, im Bild, in der Sprache, in der Welt, im Geist, alles, was der Mensch ist, alles, was der Mensch jemals war, und alles, was er jemals sein könnte, tun könnte, erkennen könnte, alles, was der Mensch je gesehen hat, alles, was er je sehen könnte, alles, was kein Mensch je gesehen hat, was je ein Mensch übersehen hat, alles, was kein Mensch je wird sehen können, alles, was ein Mensch je wahrnehmen konnte, könnte oder hätte können, alles, was unwahrnehmbar war, ist, sein wird, alles, womit der Mensch jemals oder niemals in Berührung war und kommen könnte, alles, wozu jemals Menschliches in irgendeiner oder keiner Beziehung stand oder stehen könnte: Das Innerste des Künstlers fließt durch seine Medien in das Kunstwerk und transzendiert, das heißt: verinnerlicht, in diesem die natürliche Realität, macht sie transparent für das Ungreifbare, das in der transzendierten natürlichen Realität, in der künstlichen, sichtbar wird.

Dem einzelnen Kunstwerk – um den Gedanken auf die Spitze zu stellen – fließt also, bei der Erforschung eines bestimmten Aspektes, eines bestimmten Bereiches der menschlichen Existenz (nur die Kunst in ihrer Gesamtheit könnte die menschliche Existenz in ihrer Gesamtheit erforschen), ergo kraft seiner Eigengesetzlichkeit, seiner künstlichen Naturgesetze, durch seine Mittel der unkenntliche Kern der menschlichen Existenz ein, – das Ungreifbare, das unkenntlich ist, weil es in seinem Ganzen gleichwie in jedem einzelnen Atom seines Ganzen die Totalität der menschlichen Existenz enthält und ist: gleichsam die absolute, all-eine, ganzheitliche Weltseele vor ihrer Selbstbestimmung bedeutet –, das unkenntliche Ungreifbare, das, indem es dem Kunstwerk einfließt, in der Realität dieses Kunstwerks – in deren konkretem autonomen Paradoxkosmos der abstrakte autonome Paradoxkosmos des Ungreifbaren sich (als Mikrokosmos) manifestieren kann, allumfassend, aber spielerisch und nur im inwendigen Material –, somit in der

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Beleuchtung des zu erforschenden Bereiches, unter dem zu erforschenden Aspekt, im Blickwinkel des Ausgangspunktes, kenntlich und dergestalt als innerstes Wesen, als letztmögliche, nicht transponierbare Erkenntnis des erforschten Bereiches, als Kern der menschlichen Existenz, quasimystisch erfahrbar oder erlebbar und einsehbar wird.

All die scheinbar nur handwerklich bedingten künstlerischen Techniken, Methoden, Ausdrucksmittel, (sei es die poetische Sprache, die grundsätzlich, da ihr die Darstellung des menschlichen Daseins obliegt, eine aus allen Quellen sich speisende Sprache der Selbst- und Welterkundung sein muß; sei es der Perspektivismus des Romans, den man schlicht damit begründen kann, daß eine Figur nur dann glaubhaft und lebendig erscheint, wenn der Autor ihr gerecht wird, sich also ihrer subjektiven Perspektive verschreibt; sei es etwa die Formensprache des analytischen Kubismus, die monoskopisch als Methode zur Emanzipation und Selbstzergliederung der Malerei zu betrachten, sich erst auf den dritten Blick als einseitig erweist), all die scheinbar nur handwerklich bedingten Kunstmittel – sind sie doch konkrete Gestaltung der künstlerischen Medien – offenbaren in dieser Beleuchtung ihre einzigartige ereignete und durchfügte metaphysische Dimension.

Die Ökumene

In der Wissenschaft der Tränen gibt es einen dunklen Altar,

Es hat die feuchte Traube geglüht, und ihr düsteres Wasser schwankt noch immer, ist noch immer da

Hinter den Inseln des Scheins tut sich der stürmische Ozean der Wahrheit auf: Welches sind die beiden zukünftigsten Aufgaben? Es gilt: einzusehen, daß die Erkenntnisse der Wissenschaften, der Philosophie, der Künste, der Religionen und des Mythos einander ebenbürtig sind, einander gleichbedeutend ergänzen, da die Seinsdimensionen, denen diese Erkenntnismethoden zugedacht sind, zwar ineinanderragen, nicht aber ineinanderfallen, – daß also (um einen aktuellen Komplex heranzuziehen) die Erkenntnisse der Neurowissenschaften, die Erkenntnisse der Freudschen Lebensforschung, die Erkenntnisse vom Weltgeist und von der Weltseele, die Erkenntnisse aus dem sterbenden Vergil, die Erkenntnisse des »Dissonanzenquartetts«, die Erkenntnisse des biblischen Menschenbildes, die Seelenerkenntnisse vom Ilissosufer, die Erkenntnisse des Ödipusmythos alle gleichermaßen wahr sind: zum ersten: und zum zweiten: ein Ethos zu verwirklichen, in dem alle Menschen (der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft) allezeit alle Lasten

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(die vergangenen, die gegenwärtigen, die zukünftigen, die möglichen) aller Menschen gemeinsam tragen und von allen Leistungen (den vergangenen, den gegenwärtigen, den zukünftigen, den möglichen) aller Menschen gemeinsam getragen werden: gemeinsam zu tragen und gemeinsam getragen zu werden! Was haben wir seit Anbeginn erfahren, als daß sich eins im anderen erkennt? Verantwortung bedeutet Mitverantwortung: angesichts der Tat eines Anderen nach den Quellen dieser anderen Tat und zugleich nach denselben Quellen in sich selbst zu forschen: um zu erkennen, daß die Erforschung jeder anderen Tat ab einer tatbestimmten Einsichtstiefe zwangsläufig in die Selbsterforschung verfließt, daß wenigstens eine der Quellen, aus denen der Andere tätig geworden, auch in einem selbst pulst: Tun und Sein eines Menschen sind immer auch Möglichkeiten, nähere oder fernere, aller anderen Menschen. Denn solches Sein und Tun entströmt individuellen und überindividuellen Quellen, von deren letzteren immer wenigstens eine allgemeinmenschlich, das heißt: einige vielen und wenigstens eine allen Menschen gemein ist; jeder Mensch trägt alle menschlichen Möglichkeiten, gute bis böse, sehr wahrscheinliche bis sehr unwahrscheinliche, in sich, um nur die allerwenigsten zu verwirklichen; jeder Mensch ist eine Möglichkeit des allgemeinmenschlichen Seins, das alle vergangenen, gegenwärtigen, zukünftigen und jederzeitigen menschlichen Möglichkeiten birgt, und somit eine Möglichkeit, sehr wahrscheinlich bis sehr unwahrscheinlich, eines jeden anderen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Menschen. Und böses, schuldhaftes Tun entkommt immer auch individuellem und überindividuellem guten Sein, trägt mithin latent die Möglichkeit, birgt Keime des Guten in sich, während gutes Tun, das immer auch bösem Sein entkommt, ein abgewandtes Gesicht, ein verlorenes Profil des Bösen verbirgt (und durch Teufelslist die Fratze hervorkehren mag). Kein Mensch, mag er ausschließlich Gutes tun, kann sich irgendeiner Möglichkeit des Bösen entledigen, gleichwie kein böser Mensch, mögen seine Lungen den Feuerodem der Hölle hauchen, von irgendeiner Möglichkeit des Guten geschieden ist. Ein Mensch ist nicht nur verantwortlich für sein eigenes Tun, er ist überdies, in sehr hohem bis sehr geringem Maße, mitverantwortlich für all jene menschlichen Möglichkeiten, die nicht durch ihn selbst, sondern durch andere sind: Ich bin mitverantwortlich für alles, was ein Anderer tut, getan hat, tun wird oder tun könnte, da dies andere Tun dem gemeinsamen Sein (was der Andere und ich gemeinsam sind) entspringt und daher auch eine Möglichkeit meiner selbst verwirklicht, einen Aspekt meines eigenen Seins entbirgt – und das Maß meiner Mitverantwort-

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lichkeit bestimmt sich danach, wie einflußreich diese gemeinsamen Quellen (Ursprünge und Zuflüsse) in mir sind und wie stark sie die andere Tat beeinflußt haben: wie viel also von allen Quellen der anderen Tat in mich fließt: wie wahrscheinlich die vom Anderen verwirklichte menschliche Möglichkeit in mir ist: wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich es ist, war und werden könnte, daß ich ebenso handeln werde, würde oder gehandelt hätte …

ich bin ein andrer wenn ich bin, meine Taten sind mehr noch mein sind sie auch aller, um selbst zu sein muß ich ein andrer werden, mich selbst verlassen, mich suchen unter den andern, den andern die nicht sind wenn ich nicht da bin, den andern die mir volles Dasein geben, ich bin nicht, Ich gibt es nicht, immer sind wir als wir, das Leben ist ein andres, immer weiter jenseits von, außer dir, außer mir, immer Horizont,

Betrieben vom innerlichen Wechselfluß zwischen entgegensetzlichen und ausschließlichen Wörtern, zwischen Gut und Böse, Opfer und Täter, ist das politische Denken wesenhaft subjektiv, da durch wesenhaft politische (entschlossen gutseitige) Wörter und Gedanken das Kollektivsubjekt denkt; es ist notwendig (Politik ist notwendig) subjektiv, kollektivsubjektiv, da das Kollektivsubjekt Ursprung und Aufgabe der Politik, da es Ursprung und Gegenstand des politischen Denkens ist, und wie staatstragend oder fundamentalkritisch, wie fortschrittlich oder konservativ sich die politische Rhetorik, die politische Philosophie oder der politische Journalismus auch gebärden mag, er, sie, es bleibt wesenhaft subjektiv, entschlossen, einseitig, entgegensetzend, ausschließend, gutwollend. Nur die Schöpfungen aus der individualistischen Hochkultur sind objektiv, denn nur in ihnen erschöpft sich das Ungreifbare, nur in ihnen, nur in der ästhetisch-spekulativ-introspektiven Erkenntnis, der innerlichen Selbsterkenntnis, offenbart sich die Ökumene, das ewige und objektive Kollektivsein alles Menschlichen, worin sich das flüchtige Scheininteresse einer subjektiven Kollektivexistenz – das Gemeinwohl einer republikanisch organisierten deutschen Gesellschaft etwa – verliert.

Die Zukunft ist in Wahrheit das Land meiner Liebe

Wenn ich nur dort hinüberkönnte,

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»Die Sünde, die nicht vergeben wird«

Der ist gewiß der Größte,
welcher der Nacht die Treue und Sehnsucht wahrt
und dennoch die gewaltigsten Werke des Tages tut:
Thomas Mann: Süsser Schlaf! (1909):

Herausgefordert von einigen antidemokratischen bis menschenfeindlichen Passagen aus Friedrich Nietzsches Nachlaß, habe ich mich immer wieder gefragt, ob es heute tatsächlich noch vernünftig sei, diesen Philosophen zu lesen. Stellenweise mußte ich meine Frage verneinen: »– jene ungeheure Energie der Größe zu gewinnen, um, durch Züchtung und anderseits durch Vernichtung von Millionen Mißrathener, den zukünftigen Menschen zu gestalten und nicht zu Grunde zu gehen an dem Leid, das man schafft, und dessen Gleichen noch nie da war! –« »Die allermeisten Menschen sind ohne Recht zum Dasein, sondern ein Unglück für die höheren: […]«. Thomas Mann, der in der Finsternis, in der sich seine Zeit verlor, Nietzsches aufklärerische Vernunftkritik nicht mehr unterscheiden konnte, hat dagegen jene Stellen, die diese zu überschreiben drohen, mit klaren Worten erhellt. Es wäre vergeblich, Nietzsche zum Demokraten umzuschreiben, wie versucht worden ist, ihn zum Gottsucher umzuschreiben, – obwohl das destabilisierende Zentrum seiner Philosophie: der Perspektivismus (sprich: Interpretationismus), in dem es keine endgültige Wahrheit gibt, in dem endlos viele Wahrheiten miteinander um zeitweise Gültigkeit ringen und in dem »unsre ›Objektivität‹« umso »vollständiger« wird, »je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen«, ein durchaus stabiles Fundament einer demokratischen politischen Philosophie abgäbe. Es erscheint mir vernünftiger, Nietzsches »Romantisierung des Bösen« (wie Thomas Mann 1947 im Essay »Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung») ins Licht seiner Erfahrung zu setzen. Es gibt einen Unterschied – und es gibt den entscheidenden Unterschied! –, ob solche Stellen vor oder nach der Shoah geschrieben worden sind. Menschenfeindlich und antidemokratisch zu sprechen wie – strecken- oder fragmentweise – Friedrich Nietzsche, wäre heute eine Sünde, die nicht mehr vergeben werden könnte.

»Die Sünde, die nicht vergeben wird« meint aber ursprünglich etwas anderes. Für Thomas Manns Selbstüberwindung vom politikverachtenden und antidemokratischen Ästheten zum Streiter für politische Vernunft, Demokratie und

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Völkerverständigung wurde Nietzsches Selbstüberwindung vom ersten Wagnerianer zum ersten Wagnerhasser paradigmatisch. So wie Nietzsche »gefährlicher« als irgendjemand »mit der Wagnerei verwachsen« gewesen war, »härter« als irgendjemand sich »gegen sie gewehrt« und »mehr« als irgendjemand sonst sich »gefreut« hatte, »von ihr los zu sein«: »es war höchste Zeit«: – so überwand auch Thomas Mann zwischen 1915 und 1922 seine »Sympathie mit dem Tode« in »Lebensfreundlichkeit«, sprich: überwand sich selbst in einer »Metamorphose«, in der er sich aus der rückwärtsgewandten, machtgeschützten, romantisch-spekulativen deutschen Innerlichkeit heraus-, in ein fortschrittliches, demokratisch engagiertes Weltbürgertum hineinwand. Und so wie Nietzsche zeitlebens bewußt hielt, daß er zeitlebens verkettet-verfädelt-verliebt blieb in das Überwundene, es immer wieder aufs neue beschwor, um es immer wieder aufs neue selbst zu überwinden, – so ging auch Thomas Mann immer wieder durch sein geistiges Herkommen hindurch und stand immer wieder dafür ein, daß er, verwandelt aus einer janusgesichtigen Tradition, zeitlebens mitverantwortlich blieb noch für deren gräßlichste Fratze: Man lese nur sein Essay »Bruder Hitler« aus dem Jahr 1938, da Thomas Mann bereits ihr mächtigster geistiger Widersacher wurde und sich trotzdem in dieser niederschmetternden Verwandtschaft wiedererkannte; oder etwa seine große Ansprache zum Kriegsende, »Deutschland und die Deutschen«, wo er, längst der unanfechtbare Repräsentant des »guten Deutschlands«, vor der amerikanischen Weltöffentlichkeit bekannte, auch das »böse, schuldbeladene Deutschland« in sich zu tragen (da es eben nicht zwei Deutschland gebe, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, »dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug«, aus dessen Gutem das Böse »plötzlich als gräßliche Fratze hervortritt«: ein Gedanke, der aus der Zeit seines ersten Weltkriegs kam, aus der Zeit der Selbstüberwindung der »Sympathie mit dem Tode«, als er erkannte, daß die romantische »Lebensfrucht« – »die, frisch und prangend gesund diesen Augenblick und eben noch, außerordentlich zur Zersetzung und Fäulnis neigt und, reinste Labung des Gemütes, wenn sie im rechten Augenblick genossen wird, vom nächsten, unrechten Augenblick an […] Verderben in der genießenden Menschheit verbreitet« – »als das Heiligste und als das Schlimmste sich offenbaren« kann); oder den kleinen »Letter« an Erika und Klaus Manns »Escape to Life« von 1938, mit dem Thomas Mann auch sich selbst mitschuldig sprach am Untergang der Weimarer Republik, obwohl niemand so früh, so eindringlich und so unermüdlich vor der antidemokratischen Reaktion und vor der

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aufkommenden »Hitlerei« gewarnt hatte wie er (1921 bereits hatte er vom »Hakenkreuz-Unfug« gesprochen, von der »Roheit« und »entsetzlichen Schande« der Reaktion und des Antisemitismus), er, der damals selbst noch der unpolitische Deutsche gewesen war; oder endlich seinen kleinen, doch unvergleichlich großen Zeitungsartikel über die Schreckensbilder aus den Konzentrationslagern, der am 9. Mai 1945 unter dem Titel »Thomas Mann geißelt die deutsche Schuld« in einem Alliierten Nachrichtenblatt für die deutsche Zivilbevölkerung erschien (das mit dieser Sonderausgabe die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht verkündete): »Denn alles Deutsche, alles, was Deutsch spricht, Deutsch schreibt, auf Deutsch gelebt hat, ist von dieser entehrenden Bloßstellung mitbetroffen […] auch der Deutsche, der sich beizeiten aus dem Bereich nationalsozialistischer Menschenführung davongemacht hatte […].« Der Kampf gegen Heuchelei und Selbstgerechtigkeit, gegen »die Sünde, die nicht vergeben wird«, wie er in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« paradigmatisch formuliert hat: – dies geht durch seine Schriften!

Die epochenscheidende Erkenntnis, klassisch ausgeformt 1929 in »Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte« (dem zentralen Essay vor dem Bruch von 1933): »In jeder geistigen Haltung ist das Politische latent«, hob Thomas Mann zuerst 1917 in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« ans Licht, mitten im großen Ringen der Zeiten: »– es kam der Tag, wo sich erwies, daß einer bestimmten seelisch-geistigen Verfassung eben doch eine bestimmte politische Haltung latent innewohnt oder von weitem entspricht, die einzunehmen unter Weltumständen wie den gegenwärtigen niemand umhin kann.« Wird nicht, wer im letzten, entscheidenden, frühmorgendlich-unsicheren Augenblick die Forderungen des Tages erkannt hat: daß man nicht mehr unpolitisch sein, unpolitisch sprechen darf, da die Politik über Nacht zu »unser aller Angelegenheit« und auch das unpolitische, antipolitische oder nicht politisch »gemeinte« Wort zu einer politischen Willensbildung geworden war: daß man nicht mehr antidemokratisch und lebensfeindlich sprechen darf, da es nun über Nacht politische Folgen haben kann, – und auch die unsichtbare Epochenscheide wahrnimmt und seine »Sympathie mit dem Tode« (seine Sehnsucht nach Stillstand, Endgültigkeit, Zeitlosigkeit, Verewigung), seine Sündhaftigkeit und Gefährdung, seine finsteren Möglichkeiten bewußt hält, ein besseres Vorbild, als alle, die seit Anbeginn der Zeit auf der richtigen Seite sitzen? Und wird nicht auch, wem bewußt bleibt, daß

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das Überwundene latent sein und unter Umständen wieder manifest wird, – wer es immer wieder heraufbeschwört und immer wieder selbstüberwindet –, einen Rückschlag oder einen Rückfall in einen rückschlägigen Zustand tiefer bannen, als alle Stumpfsinnigen, deren Rückstände und Alterthümer in einem laut- und lichtlosen Verlies, vergessen und ungestört, ihr regressives und reaktionäres Werk verrichten?*

Immer wenn wir Thomas Manns Selbstüberwindung der Sympathie mit dem Tode nachüberwunden haben: wenn wir mit uns selbst darüber einig sind – wo auch immer wir geistig herkommen –, daß wir in den lebensfreundlichen politischen Ideen der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Freiheit, der Gleichheit, der Menschen- und Bürgerrechte, der Menschenwürde und der Völkerverständigung sowie in der Idee der unantastbaren Gültigkeit dieser Ideen übereinzukommen haben, sowie in der Idee der notwendigen Einseitigkeit der politischen Meinung (Idee der »Monoskopie«), in der Idee der gefährlichen unbeherrschbaren Wandlungsprozesse, in der Idee des gemeinsamen Überlebens in planetarischer Zivilisation, in den Ideen der Verantwortung, der Selbstüberwindung, der Inklusion, der Partizipation, der Transparenz, der transnationalen und der flüssigen Demokratie, des bedingungslosen Grundeinkommens und seiner Bedingung: einer Verwandlung des Begriffs der Arbeit, in der Idee der Selbstverwandlung des Begriffs des geistigen Eigentums, – wenn wir gegen die dunklen Begehrungen dies Tageslicht in Permanenz hergestellt haben, das Tageslicht der politischen Vernunft: dann müssen wir uns wieder Nietzsches verderblicher Vernunftkritik hingeben (in der Kunst, der Philosophie, der »Spekulation«, der Introspektion, im schriftlichen, mündlichen oder inwendigen Selbstgespräch, in immer wieder sich selbstüberwindenden und erneuernden dionysischen Metamorphosien der »Stereoskopie«) und uns darein vertiefen, wie eine Welt aussehen könnte ohne »Ich«, ohne »Subjekt«, ohne »Ding«, ohne »Substanz«, ohne »Identität«, ohne »ausgeschlossenen Widerspruch«, ohne »Tatsachen«, ohne »Grenzen«, ohne »Vater«, ohne »Wahrheit«, ohne »Sein«: eine immer wieder von uns selbst zu schaffende »Welt« des »Werdens«, in der: alles fließt

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* Im Mai des Jahres 1929 kristallisierten Thomas Manns Warnungen vor der politischen Reaktion in einem Bild, das aus irisierenden Tiefen aufsteigt: »Das Alte«, schreibt er in seinem epochalen Essay »Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte«, »[…] schminkt sich die Farbe des Lebens an, und eine Zeitbeleuchtung von frühmorgendlicher Unsicherheit ermöglicht bis zu einem gewissen Grade die Täuschung«, … und aus dem Jahr 1912, aus der Novelle »Der Tod in Venedig«, taucht die Gestalt des »greisen Gecken« auf, jenes »schauderhaften Alten«, in dem das Schicksal des dem Tode anheimgegebenen Helden vorgestaltet ist: Gustav von Aschenbach – »von jeder Sympathie mit dem Abgrund« und »auflösenden Erkenntnis« abgekehrt: entschlossen, »das Wissen zu leugnen« – hatte an einem trüben Frühlingsmorgen »des Jahres 19.., das unserem Kontinent monatelang eine so gefahrdrohende Miene zeigte, […]« von Triest aus seine Reise nach Venedig angetreten. Auf dem Verdeck des »veralteten« Dampfschiffes, das ihn in dem österreichischen »Kriegshafen« aufgenommen hatte, betrachtete er, »einen Arm auf die Brüstung gelehnt«, eine Gruppe jugendlicher Ausflügler: »Sie machten nicht wenig Aufhebens von sich und ihrem Unternehmen, schwatzten, lachten, genossen selbstgefällig das eigene Gebärdenspiel […]. Einer, in hellgelbem, übermodisch geschnittenem Sommeranzug, roter Krawatte und kühn aufgebogenem Panama, tat sich mit krähender Stimme an Aufgeräumtheit vor allen andern hervor.« Und Gustav von Aschenbach, von der Szene irritiert, erkennt in der »dunstigen Frühe« erst bei genauerem Hinsehen und dann »mit einer Art von Entsetzen«, daß dieser übermodische, überlaute Jüngling »falsch« ist: »Er war alt, man konnte nicht zweifeln. Runzeln umgaben ihm Augen und Mund. Das matte Karmesin der Wangen war Schminke […]. Schauerlich angemutet sah Aschenbach ihm und seiner Gemeinschaft mit den Freunden zu. Wußten, bemerkten sie nicht, daß er alt war, daß er zu Unrecht ihre stutzerhafte und bunte Kleidung trug, zu Unrecht einen der ihren spielte? Selbstverständlich und gewohnheitsmäßig, wie es schien, duldeten sie ihn in ihrer Mitte, behandelten ihn als ihresgleichen, erwiderten ohne Widerwillen seine neckischen Rippenstöße. Wie ging das zu? Aschenbach bedeckte seine Stirn mit der Hand und schloß die Augen, die heiß waren, da er zu wenig geschlafen hatte. Ihm war, als lasse nicht alles sich ganz gewöhnlich an, als beginne eine träumerische Entfremdung, eine Entstellung der Welt ins Sonderbare um sich zu greifen, der vielleicht Einhalt zu tun wäre, wenn er sein Gesicht ein wenig verdunkelte und aufs neue um sich schaute. In diesem Augenblick jedoch berührte ihn das Gefühl des Schwimmens, und mit unvernünftigem Erschrecken aufsehend, gewahrte er, daß der schwere und düstere Körper des Schiffes sich langsam vom gemauerten Ufer löste. […] Aber widerlich war es zu sehen, in welchen Zustand den aufgestutzten Greisen seine falsche Gemeinschaft mit der Jugend gebracht hatte. Sein altes Hirn hatte dem Weine nicht wie die jugendlich rüstigen standzuhalten vermocht, er war kläglich betrunken. Verblödeten Blicks, eine Zigarette zwischen den zitternden Fingern, schwankte er, mühsam das Gleichgewicht haltend, auf der Stelle, vom Rausche vorwärts und rückwärts gezogen.« … Am 16. Mai 1929, da Thomas Mann vor dem Münchner »Club demokratischer Studenten« seinen epochalen Essay vortrug, um mit Nietzsches und Freuds Beistand die Jugend über die gefährlich sinnverwirrenden Zeiterscheinungen von »Reaktion als Fortschritt« und »Revolution als Reaktion« zu belehren (in einem dieser beiden ausgebeuteten Aufschlüsse Nietzsches findet sich noch eine Vorgestalt der »Sympathie mit dem Tode«: die »Mitempfindung für das Vergangene«), – am 16. Mai 1929 also war aus Gustav von Aschenbachs Todesboten das Inbild aller Reaktion und Hypokrisie geworden: »Hier ist von einem modernen Unfug die Rede, und jeder sieht, daß der oszillierende Begriff der Revolution es ist, mit dessen Hilfe dieser Unfug gestiftet wird, nämlich durch die Reaktion, die ihn usurpiert, sich darein vermummt und es solcherart fertigbringt, daß dem geraden und auf solche Kunststücke nicht vorbereiteten Sinn der Jugend, wie wir sagten, das Älteste und Abgestorbenste als wunderwie anziehende Lebensneuigkeit erscheinen mag. Man kann hier wirklich von einer Neuigkeit sprechen in Bezug auf die Erscheinung und das Kunststück selbst. Dergleichen war kaum je schon da, es war nicht da in dieser gleichsam verabredeten und einer Parole gehorchenden Durchführung. Immer hat es die auf Erhaltung und Wiederherstellung bedachte Abneigung gegen das fortschreitende Leben, die fromme und sinnige, melancholische oder vertrotzte Rückwärtsgewandtheit, die Sympathie mit dem Tode gegeben, die viel Geist besitzen kann, ja, oft mehr davon besitzt, als ein allzu fröhlicher

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Fortschritt, – nämlich grade dann, wenn sie weiß, was sie ist und nichts anderes sein möchte; wenn sie sich nicht darüber täuscht, von Lebens wegen verurteilt zu sein, aber sich vornehmer weiß oder dünkt, als das Leben, und in einer Stimmung stolzer und beharrender Hoffnungslosigkeit ihr ironisches Genüge findet. Solche Haltung und Lebensstimmung gibt es auch heute, Charaktere und Werke, deren schicksalsbewußter Konservativismus keineswegs der menschlichen Ehrwürdigkeit entbehrt. Ich sprach einmal in aller Liebe und Ausführlichkeit von einem solchen Werk: von Hans Pfitzners, des letzten Romantikers, ›Palestrina‹ […]. Über dies ernste Sein, dies zeitabgewandte Sich-zu-Ende-leben des Vergangenen im Gegenwärtigen namens des Lebens und des Fortschritts moralisieren zu wollen, wäre Philisterei. Hier ist keine Gefahr, hier ist nur Melancholie, und nur der ästhetische Gesichtspunkt hat Geltung. Ungeduld und Abscheu beginnen aber bei dem Versuch des Lebenswidrigen, die Gebärde jugendlicher Zukünftigkeit zu stehlen und in sie verstellt seine dunkle Sache zu betreiben; sie beginnen dort, wo es scheint, als könne es dem revolutionären Hokuspokus solcher Schwindelmagie gelingen, die Unschuld in den Berg des Todes hinter sich dreinzulocken. Ich glaube, daß hier Widerstand zu leisten, daß einige kritische Aufklärung über dies Treiben am Platze ist. Noch einmal, dieser Ehrgeiz des Alten ist neu. Das Alte wollte sonst das Alte sein und wetterte unmißverständlich gegen das Neue. Heut will es selber das Neue sein, es schminkt sich die Farbe des Lebens an, und eine Zeitbeleuchtung von frühmorgendlicher Unsicherheit ermöglicht bis zu einem gewissen Grade die Täuschung.« Gefahr, Ungeduld, Abscheu und  Verderben beginnen also, wo versucht wird, der Sympathie mit dem Tode »Lebensröte anzuschminken« (Fundort dieser Varietät: »Betrachtungen eines Unpolitischen«, Fundstelle: »Von der Tugend«), – an dem Punkt also, »wo der Geist aufhört und die Politik beginnt«, sobald versucht wird, die Sympathie mit dem Tode aus der geistigen in die politische Sphäre zu transponieren und mittels solcher Pharisäerkunststücke die Jugend in den »Berg des Todes« zu verführen: »Das niederschlagende Schauspiel ist uns nicht mehr ungewohnt, daß junge Körper greisenhafte Ideen tragen, sie in keckem Geschwindschritt, Jugendlieder auf den Lippen, den Arm zum römischen Gruß erhoben, dahertragen und den schönen Schwung ihrer Seele daran verschwenden. Es muß die Verwirrung steigern, wenn Jugend dem Alten und vor Alter Bösen ihre biologische Liebenswürdigkeit leiht. Aber es ist nur eine Verwirrung des Augenscheins, ein unbeständiges Trugbild. Das Altersböse wird nicht gut und schön dadurch, daß Jugend es trägt; es würde nicht lebensgerecht und liebenswürdig – und wenn sie tragischer Weise ihr Blut dafür vergösse. Irrungen und Mißverständnisse dieser Art halten nicht stand, sie sind dazu bestimmt, geordnet und beigelegt zu werden; und um den Prozeß der Richtigstellung zu beschleunigen, wäre, so meine ich, der Jugend die Beschäftigung mit einer Erscheinungsform moderner Lebensforschung zu empfehlen, die wirksamer, als jede andere, jeden Versuch vereitelt, sie zur Verdunkelung des Revolutionsbegriffes zu mißbrauchen. Ich meine die Psychoanalyse […]«. Indem sie die Sympathie mit dem Tode »auf die Erkenntnis beschränkt, ohne ihr zu gestatten, auf den Willen überzugreifen«, will die aus der Romantik erwachsene Psychoanalyse »der Katastrophe vorbeugen und sie auf geistige Weise verhüten«: »Nur dies heißt revolutionär. Nur dem durch Bewußtmachung und analytische Auflösung führenden Willen zur Zukunft gebührt der Name der Revolution. Man muß das heute der Jugend sagen. Es gibt keine Predigt und keinen Imperativ des großen Zurück, keine Inbrunst zur Vergangenheit um der Vergangenheit willen, die anders als zu dem offenkundigen Zweck der Verwirrung diesen Namen für sich in Anspruch nehmen könnten, – womit nicht gesagt sein soll, daß etwa der revolutionäre Wille von Vergangenheit und Tiefe nichts wüßte. Das Gegenteil soll besagt werden. Er muß und will sehr viel davon wissen, sehr gründlich darin zu Hause sein; nur daß diese dunkle Welt ihn nicht um ihrer selbst willen lockt, daß er sie nicht um scheinfrommer, scheinreligiöser Erhaltung willen, kurz aus reaktionärem Instinkt zu seiner Sache macht, sondern als ein Erkennender und ein Befreier in ihre mit Greueln und Schätzen gefüllten Verliese dringt.«

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(…)

Die Naturwissenschaften können die Sonderstellung des Menschen nicht in Frage stellen

Dieses Buch ist kein weiterer gewöhnlicher Sammelband zum kontroversen Menschenwürdebegriff. Es eröffnet vielmehr – aus den verschiedensten Perspektiven, die in der Einleitung zusammengefaßt werden – ebenjene Paradigmendebatte, die die Herausgeberin fordert. In ihrer Einleitung und ihrem eigenen, abschließenden Beitrag arbeitet Beatrix Vogel heraus, was den meisten Kontroversen um die Menschenwürde mangelt, und setzt zu einer Theorie an, die ein neues säkulares Grundlagenmodell etablieren könnte:

Gewöhnlich wird in den einschlägigen Debatten darüber hinweggesehen, daß die kategoriale Differenz, der prinzipielle Unterschied zwischen Mensch und Tier, der in der europäischen Tradition die spezifische Würde des Menschen begründet, nichts anderes ist als der – Erkenntnis in unserem neuzeitlich-wissenschaftlichen Sinn konstituierende – (logische) Unterschied zwischen dem Menschen als Erkenntnissubjekt, als »Hervorbringungsgrund von Wirklichkeitserkenntnis« (Beatrix Vogel), und den Objekten dieser Erkenntnis, also auch allen anderen Lebewesen und auch dem Menschen selbst, insofern er, auf der Objektebene, seinerseits Tier unter Tieren ist; indem sie an diese grundlegende kategoriale Spaltung unseres Wirklichkeitsbezuges erinnert, verdeutlicht Beatrix Vogel, daß das Spezifische des Menschen, eben der Metastatus seiner Subjektivität, naturwissenschaftlich nicht erfaßt werden kann, weil diese als Konstitutionsgrund der erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnismethode kein empirischer Gegenstand ist. Aber noch einen entscheidenden Schritt weitergehend, deutet Beatrix Vogel an, daß die Gesamtstruktur der empiristischen Wissensform eine Theorie des »SUBJEKTIVEN« impliziere, aus der sich (was sie an anderer Stelle, auf die im Buch auf S.119 verwiesen wird, unternimmt) ein neues Grundlagenmodell explizieren lasse, mit dem wir den ganzen Menschen erfassen könnten – »subjektives Fühlen und Erleben« (S.413), bisher »x«, würde eine der empiristischen »gleichrangige“ (S.119) Wissensform –, ohne den Boden des säkularen, nachmetaphysischen Denkens zu verlassen (weil das neue

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integrale Paradigma FÜHLEN IST EINE WISSENSFORM eben vollständig aus der Struktur des alten empiristischen zu entwickeln sei)! Aber auch, wer dorthin (wo der individuelle Mensch seine zuvor nur erkenntnistheoretisch begründete besondere Würde als »Hervorbringungsgrund« konkret erleben lernen könnte) nicht folgen möchte, sollte diesem außergewöhnlichen, hervorragenden Buch jedenfalls zwei unentbehrliche Einsichten für die weitere Debatte über Interpretation und Zukunft des Menschenwürdebegriffs danken: nämlich daß – erstens – alle Versuche, die Sonderstellung des Menschen unter Berufung auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse aufzulösen, einem logischen Fehlschluß unterliegen, dem Kategorienfehler der Vermischung von Objekt- und Metaebene, und damit letztlich hinauslaufen auf eine Auflösung der naturwissenschaftlichen Wissensform, verstanden als Methode zur Gewinnung objektiver Erkenntnis, indem sie mit dem Subjekt-Objekt-Verhältnis deren Voraussetzungen negieren, und daß – zweitens – das logisch(-erkenntnistheoretisch) notwendige Festhalten an der Sonderstellung des Menschen durchaus keine moralische Abwertung anderer Lebewesen bedingt, weil, im Gegenteil, diese unsere Sonderstellung die Bedingung dafür ist, daß wir überhaupt begründetes Wissen über Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten des empirischen Menschen mit anderen Lebewesen gewinnen können, um dieses in einen Diskurs über z. B. den moralischen oder politischen Status und die daraus abzuleitenden Rechte bestimmter Tiere einzubringen. Daß der Mensch selbst »Schöpfer seines Welt- und Wirklichkeitsverständnisses« (S.386) ist: diese epochale, im Renaissance-Humanismus wurzelnde Einsicht des modernen europäischen Denkens ermöglicht eine säkulare Begründung der Menschenwürde, die sowohl den wissenschaftstheoretischen als auch den ethischen Anforderungen genügen kann, die an eine heutige Theorie der differentia specifica des Menschen zu stellen sind. In den Worten Beatrix Vogels: »Was zuletzt das Schicksal des Begriffes der ›Würde‹ angeht, so plädiere ich, entsprechend meiner Einschätzung des menschlichen Erkenntnisprozesses als schlechthin Wirklichkeit eröffnend, entschieden dafür, ihn beizubehalten, als Auszeichnung – nicht der Eitelkeit von uns Menschen, so dass der empirische Mensch mehr wert wäre als andere Lebewesen –, sondern als Auszeichnung der Schwelle, wo der Mensch zu sich selbst kommt […]. Hier ist der erste und einzige Punkt des Eingriffs in die Wirklichkeit und des Einflussnehmens auf die Lebensrealität: die große Entdeckung und Einsicht, die mit der Neuzeit dem kollektiven Bewußtsein als Allgemeingut eingeprägt ist. Erst und nur von hier aus zeigt sich alles und jedes als grundsätzlich von gleicher Würde.« (S.415)

Nach dem etwaigen Kompilator der »Rückkehr aus Syrakus« wurde dieses Romaneskessay im Jahr 2014 n.Chr. unter dem Pseudonym Appollonysos als Rezension zu: Beatrix Vogel (Hg.): Umwertung der Menschenwürde – Kontroversen mit und nach Nietzsche, Freiburg/München: Karl Alber 2014 altpubliziert. Den tieferen Grund der Verdunkelung zu erhellen, der von dieser Kompilathese aus dem Augenschein aller konkurrierenden Herausgeber und Sprachwissenschaftler auf unsere editio fällt, versagen wir uns wiedereinmals – aus durchsichtigen Bewegwellen – und schöpfen aus allen Bunkern, die wir zu verbergen vermögen, einen allerletzten schatzschimmernden Fragestein aus den irisierenden Tiefen der Abgründe aufwärts: Liegt die Ewigkeitsadresse 404 auf einer Pionierroute der Neumenschlichen Kolonisationsbewegung?

Herausgeber LK2199nlpz
Stadt 1,
im Jahr 800 d.N.M.,
n. a. Z.: 1517 p.r.,
M84067T84355

Die Rückkehr aus Syrakus Seite 42

Fortsetzung von »Die Rückkehr aus Syrakus« folgt

  1. Der leider Fragment gebliebene Essay, aus dem ich hier zitiere, erwuchs aus der Entdeckung eines bis dahin unbekannten Erstdrucks von Thomas Manns Text »Die Lager«, mit dem der Schriftsteller am 9. Mai 1945, fast auf den Tag genau 60 Jahre vor meiner Wiederentdeckung dieses Erstdrucks, nach Deutschland zurückkehrte (zu Entdeckung, Text und Kontexten siehe hier: »Der Berg des Todes«). ↩︎
  2. In seinen Erinnerungen an Martin Heidegger erzählt Carl Friedrich von Weizsäcker eine märchenhaft anmutende Anekdote: »Auf den längeren Spaziergängen bei Besuchen in Todtnauberg hat mich Heidegger auf einen Waldweg geführt, der abnahm und mitten im Wald an einer Stelle aufhörte, wo auf dem dichten Moos Wasser austrat. Ich sagte: ›Der Weg hört auf.‹ Er sah mich pfiffig an und sagte: ›Das ist der Holzweg, er führt zu den Quellen‹.« (zitiert nach: Hans Blumenberg: Quellen, Ströme, Eisberge) ↩︎
  3. Unter dem schillernden Begriff »Moderne« seien hier und im Fortgang des Textes alle avantgardistischen künstlerischen Strömungen subsumiert, die zwischen dem Ausgang des neunzehnten und dem Ausgang der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die Künste revolutionierten und für die emblematisch (und totalitär) die Namen einstehen: Arnold Schönberg, Pablo Picasso und James Joyce. ↩︎
  4. Thomas Mann gab sie 1945, in seinem Nekrolog »Deutschland und die Deutschen«, der die »Geschichte der deutschen ›Innerlichkeit‹« mit unerbittlicher Konsequenz in den Nationalsozialismus ausgehen läßt. ↩︎
  5. In einer unwiderstehlichen Fußnote im zweiten Teil der »Philosophie der neuen Musik« entlarvt Adorno die Dissonanz als Bedeutungsträger des Unbewußten und evoziert die Vorstellung, daß der Wunsch nach Emanzipation der Dissonanz »als Nachtseite die gesamte bürgerliche Musik seit Gesualdo und Bach begleitet« haben könnte. ↩︎
  6. Vier signifikante Stufen dieser Absorption: »Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. – Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. […] Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen, ist er in jedem Punkte der Durchdringung.« (Novalis: Blütenstaub, 1798) –  »Die letzten Grundgeheimnisse trägt der Mensch in seinem Innern, und dieses ist ihm am unmittelbarsten zugänglich; daher er nur hier den Schlüssel zum Rätsel der Welt zu finden und das Wesen aller Dinge an Einem Faden zu erfassen hoffen darf.« »Ding an sich aber ist allein der Wille: […] Er ist das Innerste, der Kern jedes Einzelnen und ebenso des Ganzen […] Wahres Heil, Erlösung vom Leben und Leiden, ist ohne gänzliche Verneinung des Willens nicht zu denken. Bis dahin ist jeder nichts Anderes als dieser Wille selbst, dessen Erscheinung […] die dargestellte Welt voll Leiden ist […]« (Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, 1819/1844) – »Ich glaube in der Tat, daß ein großes Stück der mythologischen Weltauffassung, die weit bis in die modernsten Religionen hinein reicht, nichts anderes ist als in die Außenwelt projizierte Psychologie. Die dunkle Erkenntnis […] psychischer Faktoren und Verhältnisse (die natürlich nichts vom Charakter einer Erkenntnis hat) des Unbewußten spiegelt sich […] in der Konstruktion einer übersinnlichen Realität, welche von der Wissenschaft in Psychologie des Unbewußten zurückverwandelt werden soll. Man könnte sich getrauen, die Mythen vom Paradies und Sündenfall, von Gott, vom Guten und Bösen, von der Unsterblichkeit u. dgl. in solcher Weise aufzulösen, die Metaphysik in Metapsychologie umzusetzen.« (Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, 1904) – »Dieser Abram ist gewissermaßen Gottes Vater. Er hat ihn erschaut und hervorgedacht; die mächtigen Eigenschaften, die er ihm zuschreibt, sind wohl Gottes ursprüngliches Eigentum, Abram ist nicht ihr Erzeuger, aber in gewissem Sinn ist er es dennoch, da er sie erkennt und denkend verwirklicht. Gottes gewaltige Eigenschaften – und damit Gott selbst – sind zwar etwas sachlich Gegebenes außer Abram, zugleich aber sind sie auch in ihm und von ihm; die Macht seiner eigenen Seele ist in gewissen Augenblicken kaum von ihnen zu unterscheiden, verschränkt sich und verschmilzt erkennend in eins mit ihnen […] Die Seele als Geberin des Gegebenen […]« (Thomas Mann: Freud und die Zukunft, 1936) ↩︎
  7. »Diese eigentümliche Form erlaubte auch, den Bereich des rein Psychologischen […] zu verlassen und in metaphysische Bereiche vorzudringen […], die tiefere einigende Logik aus jenen Regionen der Seele aufzudecken, die weit unter der rein psychischen Sphäre liegen.« (Hermann Broch, Kommentare zu »Der Tod des Vergil«) ↩︎

Band 6: homo fluidus