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Band 6: homo fluidus

homo fluidus oder das Schöpfungsspiel

Fragmentierte Reise zum Herz der Nacht

Alle Figuren auf dieser Reise sind fiktiv,
auch wo sie realen Personen ähneln mögen.
Nichts, was einer Figur zugeschrieben ist,
bezieht sich auf eine reale Person.

Die Quelle des Zitateozeans:
Octavio Paz, Weiß:

Reden,
während die anderen arbeiten,
heißt Knochen polieren,
                                     Schweigen
wetzen
           bis zur Durchsichtigkeit,
bis zum Welligwerden,
                                    zum Glitzerkräuseln,
zum Wasser:

homo sapiens

Bericht eines Schiffbrüchigen

Als ich die »Gibraltar« endlich sah, nicht mehr auf einer Fotografie, sondern ihren allumfassenden Leib, wurde ich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder der, der meinen Augen nicht traute. Ich fuhr, mit einigen hundert anderen Passagieren, auf einer der unzähligen Zubringerfähren aus dem Genueser Hafen zum Ankerplatz – hinaus aufs offene Meer, denn es gab auch damals noch keinen Hafen, der einen Stadtstaat hätte aufnehmen können. Es war ein traumhafter Frühsommermorgen, der morgendliche 15. Mai des Jahres 2017, der Tag, an dem der größte Ozeanliner aller Zeiten zu seiner Jungfernfahrt auslaufen sollte, und zum ersten Mal nach langer Zeit sah ich wieder, in schleierhaftem Sonnenschein, unser Mittelmeer. Das duftende Salzwasser blies, schäumte, tropfte in mein Gesicht. Noch bevor ich die monströse Jungfer sah, spürte ich den Wandel. Ich wollte die Fähre nicht verlassen, ich erwartete, an Bord der »Gibraltar«, die man ursprünglich »Universe« hatte taufen wollen, wieder Kontinentalklima zu atmen. Dieses Schiff überstieg alle Dimensionen aller Sprachen. Ein 500 Meter langes und 400 Meter breites eiförmiges Atoll, dessen Küstenlinie 10 bis 20 Stockwerke hohe Luxushotelanlagen und Ferienwohnblöcke säumten, verwirklichte dieses grandios phantastische Sehnsuchtsvehikel für mehr als zehntausend Menschen letztgültig die alte Vision von der seefahrenden Stadt oder der schwimmenden Insel. Bug und Bordseiten wiesen uns ab wie die Steilküsten einer Festung, und als wir am Heck des Universums in die aus 3 Hafenbecken geformte Lagune einliefen, öffnete sich mir der von allen Schiffen des griechischen Altertums ersehnte Große Hafen von Syrakus. Alle Anlegestellen waren belegt, und auf dem Kai und den Hafenmolen sammelten sich die Völker. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich an Land gehen konnte, und eine weitere Ewigkeit würde es dauern, meine Kabine zu erreichen.

Die Beseelung des Universums dauerte den ganzen 15. Mai 2017. Auf meiner spätmorgendlichen Wanderung über die Insel hatte ich kaum etwas wahrgenommen, außer Menschen, Wegweisern und betonwüster

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Hitze. Unglaublich, dachte ich nun, daß ich mich auf einem Fahrzeug befinde, als ich am späten Abend dieses Tages auf der bugseitigen Uferpromenade an der Reling lehnte und, gleich Hunderten anderer rechts und links, übers nächtliche Mittelmeer staunte. Das Schiff war so groß, daß ich seine Bewegung nicht wahrnehmen konnte. Früher hatte ich mich, sobald ich in einer warmen Sommernacht an der Küste des Mittelmeeres ruhig geworden war, einer großen Gemeinsamkeit hingeben können, mit allen anderen Küstenbewohnern, dem Bewußtsein, unser leeres nächtliches Meer von Küstenstadt zu Küstenstadt überblicken zu können wie ein Gebirge von Berggipfel zu Berggipfel. Sogar gehört hatte ich die fernen Küstenstädte.

»Man kann da vorne schon die Säulen des Herakles sehen«, sagte plötzlich jemand neben mir. »Ganz klein natürlich.«
Ich lächelte sie amüsiert und erwartungsvoll an.
»Sehen Sie sie nicht?« Sie erinnerte mich an eine georgische Künstlerin, in die ich einmal unglücklich verliebt gewesen war und die mein Leben zum ersten und letzten Mal mit der Hoffnung beseelt hatte, daß auch ich eines Tages einer Frau näherkommen könnte.
»Ich sehe«, sagte ich plötzlich, »einen Diamanten aus flüssigem Teer.«
»Das gilt auch.«
»Und ich sehe: unsere Worte, die wie Fußspuren brennen in dieser magmatischen Schwarzfolie.«
»Haben Sie gerade gedichtet, als ich Sie ansprach?« Sie wirkte nicht überrascht.
»Beinahe. Ich habe mich erinnert.«
»Woran?«
»Daran, daß ich früher, in warmen Sommernächten an Mittelmeerküsten, einer Gemeinsamkeit antworten konnte, aller anderen Küstenbewohner, dem Bewußtsein, unser Meer von Küstenstadt zu Küstenstadt überblicken zu können wie ein Gebirge von Berggipfel zu Berggipfel. Sogar hören konnte ich die fernen Küstenstädte.«
»Was heißt ›früher‹? Als Sie noch ›Bewohner‹ waren und nicht ›Passagier‹ und als sich die Küsten noch nicht bewegten?«
»Als ich noch glaubte, mit einer Erneuerung meiner Sprache an der Erneuerung der Welt mitwirken zu können.«
Jetzt wandte sie sich mir frontal zu.
»Ich bin Schriftsteller«, sagte ich stolz.
»Ich bin Künstlerin. Ich wünschte, die Überfahrt würde nie enden. In New York kann ich sicher nicht mehr so arbeiten wie in meinem schwimmenden Atelier.«

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»Sie haben ein Atelier auf dem Schiff?«
»Das ist kein Schiff«, sagte sie, als spräche sie eine Selbstverständlichkeit aus. »Das ist die Eschatologie des deutschen Mittelbürgertums.«
Ich konnte nicht mehr atmen und drehte mein Gesicht zurück ins schwarze Meer. »Die Welt als Welle und Verstellung«, murmelte ich besinnungslos.

Bis heute erinnere mich sehr lebendig der Stunde, da ich den Text von Gerhard Matzig zum ersten Mal gelesen hatte. Es war ein düsterer Morgen gewesen – einer jener Tage, an denen ich in meinem winzigen Wahnmochinger Appartement, im Schatten meines Büchergebirges, schon die Vormittagszeitung, mit der ich meine Schriftstellertage zu beginnen pflegte, künstlich belichten mußte. Wie immer nahm ich zum ersten Schluck Kaffee die erste Seite des Feuilletons, die an diesem Tag exklusiv dem Stapellauf der »Gibraltar« gewidmet war. Noch in derselben Woche fragte ich meinen Vater, ob er mir nicht das Ticket für die Jungfernfahrt finanzieren wolle, denn unmittelbar hatte ich eingesehen, daß ich nur auf der »Gibraltar« jene Lösung für das Problem der »phantastischen Literatur« würde finden können, die mir in meinem tausendundein Mal getauften und tausendundein Mal abgewrackten »Werk« noch jedesmal entglitten war.

»Da haben Sie aber einen netten Verleger«, sagte sie.
»Ja, allerdings. Er hat mir, auf gewisser Ebene, schon einigemal das Leben gerettet.«
»Ich dachte immer, das ›Problem der phantastischen Literatur‹ sei schon irgendwann im zwanzigsten Jahrhundert gelöst worden«, sagte sie nach kurzem Schweigen, noch immer mir zugewandt.
»Mag schon sein. Dann muß ich es eben nochmal lösen.«
»Erklären Sie mir doch das Problem. Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Ich glaube, ich beschäftige mich mit ganz ähnlichen Dingen.«
Eigentlich hätten wir, nebeneinander an der Reling, sie mir und ich dem schwarzen Meer zugewandt, völlig offen sprechen können, da  uns keiner der anderen Passagiere, die neben uns ins Unsichtbare sahen, zu verstehen schien. Dennoch wurde mir nun unbehaglich zumute. »Das ist sehr kompliziert … Wollen wir nicht ein paar Schritte gehen?«

Wir überließen uns dem Strom der Nachtwandler, der stetig hinter unserem Rücken vorbeigeflossen war. Die Uferpromenade umrundete die ganze Insel, vorbei an Restaurants, Cafés, Cocktailbars und Nacht-

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clubs, (in zweierlei Gestalt), hindurch zwischen der Fest- und Partylandschaft rund um den »Swimmingpool«, der »Binnensee« hätte heißen müssen, dessen eiförmige Binneninsel den Nabel der Insel bezeichnete und der in ein unterirdisches Höhlengewässersystem versickerte, das sich steuer- und backbords hinter monumentalen Glasfronten der Hafenlagune präsentierte, – hindurch also zwischen der Seenlandschaft und dem zerfließenden Lagerfeuergrillfest am Hafen, vorbei an Restaurants, Cafés, Cocktailbars und Nachtclubs, und in dieser ersten Seenacht flaute das babylonische Bordfest niemals ab. In allen denkbaren Sprachen, sitzend stehend tanzend liegend schwimmend laufend, feierte man, und wie die Worte, die Musik und die Gerüche, so flossen auch die Festgebiete an der Uferpromenade, auf den Plateaus, auf dem Kai und auf den Molen, am Corso, auf den Hotelterrassen, im Pinienhain und am Pool unkontrollierbar ineinander. Obwohl wir in diesem nie versiegenden Strom, ununterbrochen von allen Sprachen umflossen, viel poröser wurden als zuvor an unserem ruhigen Aussichtspunkt, fühlte ich mich in dieser umgreifenden Bewegung sicherer, ungesehen und ungehört.

Wir sprachen über ihre Künstlerlaufbahn, die an der Münchner Akademie begonnen hatte, nur wenige Schritte von den ersten Ausläufern meines Büchergebirges entfernt; wir sprachen über ihren Mann, einen US-amerikanischen Schriftsteller und antikapitalistischen Aktivisten, der in New York in einer improvisierten Zeitungsredaktion auf sie wartete; wir sprachen über meine letzte Veröffentlichung (einen völlig unbekannten, längst vergriffenen Gedichtband); über unsere gemeinsame Begeisterung für die lateinamerikanische Literatur des vergangenen Jahrhunderts (für Octavio Paz, den ihr Mann noch persönlich gekannt hatte), über deren ästhetische und philosophische Wurzeln. Vor allem aber diskutierten wir hingebungsvoll und so selbstvergessen, daß uns die fremden Ohren und Sprachen nicht mehr bekümmerten, verschiedene Literatur- und Kunsttheorien und kehrten irgendwann zum unumgänglichen »Problem der phantastischen Literatur« zurück, von dem wir ausgegangen waren.

Natürlich hatte sie längst erfaßt, von welcher phantastischen Literatur ich sprach, und wohl auch, was ich mir davon versprach. Die Widerständler, sagte sie, seien in Wahrheit Wiedergänger. »Ich kenne ihre Argumente besser, als man sie kennen sollte. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es ist, in den fünfziger Jahren zu leben!«

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Natürlich war es mir nicht um eskapistische Phantasy-Literatur zu tun! Ich war überzeugt, daß nur eine phantastische Literatur im Sinne Borges’ oder Cortázars die Wirklichkeit transformieren könne. Ich versuchte damals, die lateinamerikanische Ästhetik der »wunderbaren Wirklichkeit« und Ernst Cassirers These, daß alle menschlichen Weltwahrnehmungen, von der dumpfesten Sinnesempfindung bis zur höchsten intellektuellen Abstraktion, Akte symbolischer Formgebung und auf verschiedenen Ebenen miteinander verwoben seien, unter dem Einfluß von Nietzsches Vernunftkritik in einer neuen phantastischen Literatur zu integrieren, um die Wahrnehmungswelt zu erneuern. Über das Neue in der alten Sprache zu sprechen, sagte ich, stärke und festige aber nur das Alte. Und wie es mir möglich werden könnte, eine neue Sprache zu entwickeln, in die unser Wirklichkeitsverständnis so unlöslich verwickelt sei, daß es nicht im Alten zurückbleibe, wisse ich nicht mehr.

Sie war sich über die Abfolge von Cassirers symbolischen Formen nicht klar, und nachdem ich sie aufgeklärt hatte, fragte sie, ob sie mich richtig verstanden habe, daß ich der Sprache einen zentralen, einheitsstiftenden Platz im Aufbau der symbolischen Formen einräumen wolle. Ich bejahte, und nach einem kurzen Zögern sagte sie:

»Keine Symbolform wird alleine die erstarrte Welt verflüssigen können. Nur in einer utopischen Integration aller dieser Formen, aller dieser Sprachen, wird sich eine Metamorphose der Welt ereignen.«

Heute, nach allem, was geschehen ist, erscheint mir ihr Gedanke (isoliert betrachtet) nicht mehr sehr originell, geschweige denn reizvoll. Damals jedoch – und wahrscheinlich hörte ich sie auf einer Ebene auch damals schon integriert – schlugen ihre Worte ebenso durch wie am Anfang ihr eschatologischer Rätselspruch.

»Woher kommst du eigentlich genau?« fragte ich sie.
»Aus Menzing natürlich.«
Ich glaube, daß ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr überrascht war. »Aus der Würmsiedlung?«
»Nein. Aus dem Wismat.«
Sie war nur zwei Straßen jenseits der Grenze aufgewachsen, allerdings sieben Jahre später als ich. Sie nannte mir ihr Geburtsjahr, aus dem ich umständlich ihr Alter errechnete: Sie war sechsunddreißig.
Bei der entscheidenden Frage (ich erinnere mich, daß wir von einem der Plateaus, die durch vereinzelte Bodenverglasungen abgründige Felsspalten in den hellerleuchteten und menschenreichen unterirdischen See freigaben, die Treppe zum Hafen hinunterstiegen) war ich dann doch nervös: »Hast du den Untergang der Würmsiedlung erlebt?«

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»Natürlich. Ich war vierzehn Jahre alt. Es war ein unglaublicher Tag, den ich sicher nie vergessen werde.«
»Hast du die Siedlung nach der Zerstörung gesehen?«
»Ich habe den Felsen gesehen.«
»Das ist unglaublich! Ich habe noch nie jemanden gesprochen, der den Felsen gesehen hat!« Ich erzählte ihr, in einem langen Monolog, wie ich den Tag des Untergangs überlebt, verschwieg ihr aber, daß ich meine Eltern ermordet hatte, und sie sah mich, ich werde ihre schwarzen Augen nie vergessen, die ganze Zeit an, bestätigte mit kurzen Wort- und Gebärdenspielen alle meine Erinnerungen. Dies waren (bis heute muß ich das sagen) die schönsten Minuten meines erinnerbaren Lebens. »Du mußt dir vorstellen, daß ich seit diesem Tag nie wieder Kontakt zu irgendeinem Siedler hatte! Ich habe mit normalen Menzingern gesprochen, mit der Polizei natürlich, mit Ärzten, Feuerwehrleuten, ich habe sogar mit dem Pfarrer von Sankt Martin gesprochen! Aber nie wieder mit einem Siedler. Deshalb habe ich auch die Hoffnung nie aufgegeben. Und jetzt ist es eine Wismaterin auf der Jungfernfahrt nach New York! Was für eine verrückte Geschichte! Der alte Fluchtstollen aus den Katakomben der Schloßruine war wirklich endlos. Und dann noch ein Lichterlebnis!«
Als die Frau, nach einem Augenblick des Schweigens (in der Erinnerung macht dieser Augenblick alle Festgeräusche verstummen), gelassen antwortete, war die Wirkung ihrer Worte ungeheuerlich:
»Die Transparenz ist alles, was bleibt.«

Ich blieb versteinert stehen. Ich sah sie an, »unverwandt«, wie man damals sagte, ausdruckslos vermutlich. Der Strom der Nachtmenschen umschnellte uns, als wären wir zwei titanische Flußkiesel.

Ich erinnere mich nicht, ob ich noch etwas zu ihr sagte. Wir gingen, vermutlich schweigend, noch eine Zeitlang weiter, – irgendwann mußten wir auf der anderen Bordseite die Treppe zum anderen abgründigen Plateau wieder hinaufgestiegen sein –, und strandeten endlich, nach einer fast vollständigen Umrundung Gibraltars, auf der Terrasse einer Cocktailbar, wo uns die unendliche Reihe der an der unendlichen Reling Lehnenden den Blick aufs unsichtbare Meer versperrte und wo unser Gespräch, spätestens beim ersten Mai Tai, weiterlief.

Bis weit nach Mitternacht saßen wir an den Ufern des Meeres und des Stromes, merkten nichts, zumindest nicht bewußt, und buchstabierten – Mündung unseres langen Kreislaufs entlang der Küsten – einen un-

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entwirrbaren Dialog möglicher neuer Ästhetiken aus. Beim zweiten Mai Tai war sie endlich soweit, auch über ihre eigenen Kunstwerke zu sprechen; und da sie fester denn je glaubte, daß ihre Kunst mir helfen könnte, ersparten wir uns den dritten Mai Tai und gingen auf Wanderung gegen ihr Atelier.

Das war das große Kolloquium über Objektivismus und Subjektivismus, das sich eines Nachts, schon stark gegen Sonnenaufgang hin, während eines Küstenspazierganges nach »Platz« und wieder zurück aus solchen Differenzen entwickelte, und alle nahmen sie daran teil: – leicht fiebernd sämtlich, zugleich betäubt und erregt vom Gehen und Reden in der Meeresglut, zum Zittern geneigt ohne Ausnahme und, ob sie sich nun mehr tätig verhielten oder meist aufnehmend und nur mit kurzen Einwürfen das Gespräch begleitend, alle mit so angelegentlichem Eifer, daß sie oft selbstvergessen haltmachten, eine tief beschäftigte, gestikulierende und durcheinander sprechende Gruppe bildeten und die Passage versperrten, unbekümmert um fremde Leute, die einen Bogen um sie beschreiben mußten und ebenfalls stehenblieben, das Ohr hinhielten und staunend ihren ausschweifenden Erörterungen lauschten. – Haben Sie, lieber Leser, einmal eine solche Sprachwanderung erlebt? Haben Sie erlebt, wie Bewegung und Sprache verschmolzen? Haben Sie erlebt, lesend-sitzend oder sprechend-gehend, wie laufend Miteinandersprechende Sprache wurden? Haben Sie erlebt, wie Sprache und Sprechende verflossen? Haben Sie versucht, das Erlebnis der Sprachwerdung zu einer Erfahrung zu ver-sprachlichen? Ich weiß nicht, wie ich es besprechen soll! Während unserer Kreisläufe habe ich erlebt und habe es vielleicht auch ausge-sprochen, wie wir und die anderen Nachtströmer »ineinanderflossen«! Wir wurden, miteinander eine neue Sprachästhetik sprechend, ein Ineinanderfluß! Während unserer Lustwandlung gegen ihr Atelier durch die überströmte Kalksteinnacht des Atolls sagte wohl auch sie, daß wir meine phantastische Sprache vielleicht miteinandersprechen sollten. Erreichten wir überhaupt jemals ihr Atelier? War überhaupt ihr Atelier? Wurde nicht nur unser Atelier? Wurde nicht nur das Universum? O tollkühne Habsucht, die du im Wasser den Pfad, Stühle im schaumigen Gischt und Dächer in den Sternen fandest!

Das größte und luxuriöseste Hotel der schwimmenden Insel bildete die zwanzig Stockwerke hohe Bugspitze der »Gibraltar«, die hinter uns gestanden, als sie mich zuerst angesprochen und, auf die Reling der

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Uferpromenade gestützt, im nächtlichen ligurischen Meer die Säulen des Herakles gesehen hatte. Ich wohnte immerhin im danebenstehenden, etwas kleineren Haus, in einem Zimmer im achten Stockwerk, von dessen Balkonvorsprung ich gestern mittag wie aus einer Steilküstenfelswand in einhundertachtzig Grad gleißendes Himmelsmeer eingegangen war. Das Atelier der Menzinger Künstlerin ohne nennbaren Namen lag im Inneren der Erde. Wir hätten die Kluft zwischen dem ersten und dem zweiten Haus am Platz durchqueren und durch den kleinen Pinienhain an der Plaza zum Binnensee vordringen müssen, um von dort aus, entlang der Sickergerinne des Chlorwassers, bis zur Höhle der Riesenkristalle abzusteigen, einer synthetischen Druse tief unter dem Meeresspiegel, deren bedrohliche Wände mit natürlichen Kristallen aller Farben, Formen und Systeme überpolstert worden waren. Nur hier gab es einen Durchstieg in den Lagergang, hinauf zu ihrem Atelier. Indes ließen wir uns abermals im Küstenfluß treiben, bis wir in den Mahlstrom des Corsos gerieten, der den exotischsten Sprachraum des Universums umkreiste: das Reich der Schweigenden von der Binneninsel. Im Sprachozean dieses Schweigens lösten wir uns auf. Wenn wir irgendwann – wieder diesseits des Ereignishorizontes – ihr Atelier erreichten, war es kurz vor Sonnenaufgang. Sie öffnete ein Schott und machte Licht.

Das einzige, was ich in dem großen Raum sah, war ein Stuhl auf einem Stein. »Das ist mein Prunkstück«, sagte sie und erzählte mir ihre Geschichte, während ich die Schöpfung umkreiste und schwieg, bis ich hörte: »Ich bin sehr stolz darauf. Es ist einfach ein Stuhl auf Kalkgestein. Ich weiß, die meisten halten das gar nicht für Kunst.« »Doch natürlich!« rief ich. »Ich verstehe es genau: Der Stuhl auf dem Stein ist kein Stuhl!« »Noch niemand hat das so klar ausgesprochen wie du. Noch nicht einmal ich selbst.«
»Das ist die Lösung!« sagte oder dachte ich.
»Vielleicht solltest du Worte auch auf Steine stellen wie ich Stühle.« »Ich möchte auch endlich Dinge behandeln wie du, nicht nur Gegenstände.« »Nein!« sagte sie. »Meine Dinge sind ja eben, genauso wie deine …«
Keine Dinge, sprachen wir synchron.
»Komm her!« sagte sie.

Und wir küßten uns.

Und die Geschichte nahm ihren Lauf.

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homo sapiens

homo sapiens würmtalensis

Heute kann ich es niederschreiben: Die »Lösung«, die sich mir am frühen Morgen des 16. Mai 2017 in ihrem schwimmenden Atelier vor einem auf einen Kalksteinblock geschraubten Holzstuhl offenbarte, war nicht die Lösung des Problems der phantastischen Literatur. Es war die Lösung des Problems der Würmsiedlung …

Die Geschichte der Würmsiedlung, die uns 45 Jahre später nebeneinander an die Südküste des größten denkbaren Ozeanliners spülen sollte, begann am 31. Dezember des Jahres 1971 in einer Skihütte in den österreichischen Zentralalpen. Versammelt waren in dieser Zuflucht ungefähr fünfzig Gestrandete: darunter die damals schon legendäre Brenninger-Bande, zu der an diesem Tag – außer ihrem Häuptling Anton Brenninger – Konstantin Kraker, dessen Privatsekretärin Lisa, Georg Traube, Peter Schlenz und zwei Ehepaare gehörten, die den Leser nicht interessieren müssen.

Draußen war ein nie gewesener Schneesturm. Kurz nach 15 Uhr, fast genau zum vereinbarten Treffpunkt, schwebten Marta Brenninger und ihr Skilehrer Wolfgang, in eisverkrustete Kosmonauten verwandelt, von draußen herein, und Toni Brenninger, der sich mit Kraker an der Bar bereits zum dritten Jagertee vorgewagt und darüber hinweggesehen hatte, daß sich die ungestümen Flocken, vor denen sie geflohen waren, zu einem Pinzgauer Blizzard aufschwangen, – Brenninger emp-fing die beiden Weltenwanderer prustend und lachend: »Seids ihr auf’m Hosenboden die Pistn runterg’rutscht?«

Marta und Wolfgang konnten diese Sprache nicht mehr verstehen. Sie waren, zu Brenningers alljährlichem Verdruß, die beiden besten Skifahrer der Bande und hatten sich heute, nach der letzten Mittagseinkehr des Jahres, allein in die ungesicherten Tiefschneehänge abgesetzt, während Brenninger mit seiner Bande in der sicheren Pistenlangeweile zurückgeblieben war, und in dem überraschen Wettersturz hatten die beiden einsamen Könner ihr Leben verloren. Nachdem sie in den Privaträumen der Wirtsfamilie unter einem kochenden Duschwasserfall, in dem sie sich wie zuvor im

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Schnee aufgelöst hatte, zurück auf die Welt gekommen war, hätte sich Marta beinahe entschlossen, nicht mehr nach unten zu den anderen zurückzukehren. Eine Stunde lang starrte sie, in einen Kokon aus Badetüchern gewickelt, aus dem Licht durchs geschützte Fenster ins schwarze Weiß.

Die Brenninger-Bande dagegen, die sich noch bei Martas Eintritt in die Atmosphäre sicher gewesen war, demnächst zum Hotelsilvester ins Tal abfahren zu können, hatte sich sehr schnell darein gefügt, in einem improvisierten Tohuwabohu aus vierzig Fremden gefangen zu bleiben, und feierte besinnungslos dem Jahreswechsel entgegen. Marta kehrte tatsächlich nie wieder zurück. Ein einziges Mal in ihrem Leben sah sie noch den Skilehrer Wolfgang, mit dem sie’s Brenninger letztes Jahr beinahe heimgezahlt hätte (Wolfgang stieg um viertel vor zwölf von oben herab und drehte, leichenblaß, mit schwarzen Augenringen und in einer lächerlich weiten Bauerntracht, eine Runde um das absurde Chaos der Gaststube, bevor er wort- und grußlos für immer verschwand); ein einziges Mal auch sprach sie noch mit ihrem Freund dem Wirt, der »alles« für die Brenninger-Bande getan hätte, obwohl er wußte, was das für Menschen waren (der Wirt servierte ihr während ihres peinlichen und folgenreichen Gespräches mit Georg Traube und Peter Schlenz ungebeten einen Teller Kapuzinerpalatschinken und eine Flasche Marillenschnaps); die restliche Zeit jedoch bis zu dem grausigen Ende dieser historischen Silvesterfeier, das später viele als den eigentlichen Gründungsaugenblick der Würmsiedlung ansprechen sollten, saß Marta wie das personifizierte schlechte Gewissen ihres Ehemannes und ihrer besten Freunde, in der sackartigen Bäuerinnentracht der dicken Wirtstochter, inmitten eines Lebens, aus dem sie am 31. Dezember 1971, um 15 Uhr, von einem Satz auf den anderen vertrieben worden war.

Die »peinliche Beichte«, wie Marta ihren folgenreichen Dialog mit Georg Traube und Peter Schlenz später in ihrer Silvestergeschichte umschreiben sollte, begann um ungefähr viertel nach neun (als nach dem allgemeinen Wiener Schnitzel mit Preiselbeeren und Kaiserschmarren und flüssigen Marillen aus der Wachau eine von irgendwoher erschienene einsame Beatles-Platte die Gaststube umgestaltete und Marta angesichts der archaischen Schnapsekstasen, in die Brenninger und seine alte Bande auf der entstandenen Tanzfläche verfielen, die beiden unbrenningerhaft zurückhaltenden Neulinge an einen freigewordenen Ecktisch entführte) und endete pünktlich um 23.30 Uhr (als die Beatles getrennt wurden und der hinter der Theke verschanzte Wirt begann, mit einem Suppenlöffel gegen eine Brat-

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pfanne zu trommeln, um auch noch das letzte Echo der Sechziger Jahre auszutreiben, ehe er mutig verkündete, daß es nicht genügend Sekt gebe und daß jeder, der um Mitternacht anstoßen wolle, jetzt die Theke stürmen müsse). In diesen zweieinviertel Stunden erzählte Marta zum ersten Mal in der Geschichte die unendliche Geschichte ihrer Ehe mit Anton Brenninger: von der ersten (dem Mädchen vom Partyservice, mit dem er sie in ihrer Hochzeitsnacht betrogen) bis zur vorletzten Episode (seiner neuen Sekretärin Lisa, die er schon wieder ans Architekturbüro Kraker ausgeliehen hatte), erzählte begeistert von Brenningers wahn-sinnigen Kniefällen auf ihren vereisten Schnee- und kochenden Asphaltpisten, und obwohl Marta die letzte und herrlichste Episode, eine der neuralgischen der Silvestergeschichte, noch gar nicht erzählen konnte, weil sie noch gar nicht erzählen konnte, verloren sich Georg Traube und Peter Schlenz (die erst kurz vor der gemeinsamen Abfahrt aus München von ihrem Chef Dr. Kraker probeweise in die Brenninger-Bande aufgenommen worden waren und noch nie zuvor mit ihrer Anführerin gesprochen hatten) in diesen letzten Stunden des Jahres 1971, die schon zu den ersten einer neuen Zeit rechnen, als allererste in dem unentrinnbaren Sprachstrudel, der zweiundzwanzig Jahre, sechs Monate und acht Tage später einen ganzen Staat verschlingen sollte … Peter, der sich immer wieder vorstellen mußte, wie Kraker auf allen möglichen Rennpisten immer wieder vor ihm auf die Knie fiel, verstummte und schrumpfte; Georg dagegen konnte nicht umhin, immer wieder verständnisvoll nach Brenninger, Kraker und Martas Erlebnis im Tiefschneesturm zu fragen, was sich auch Peter gerne getraut hätte (und was er sich viele Jahre später in gewisser Hinsicht auch tatsächlich … aber dies wäre hier eine Parenthese zu viel …) … Jedenfalls dürfte es den vorausschauenden Leser nicht überraschen, wenn ich niederschreibe: Wie ich Marta da so georgisch sitzen sehe, inmitten der Silvestergeschichte Geschichten erzählend, bin ich geneigt, auch dies als eigentlichen Gründungsaugenblick der Würmsiedlung anzusehen.

Fünf Minuten vor Mitternacht griff sich Brenninger die Bratpfanne und den Suppenlöffel, kletterte auf die Theke, kniete sich in den Gläser- und Flaschenwald, so daß sein glühendes Löwenmännchengesicht direkt unter den Balkenaufbauten aufging, und schlug den Jahreswechsel an: Zuerst krachte es dreimal jede Minute, »noch vier Minuten!« brüllte Brenninger, dann zweimal alle zehn Sekunden, »noch sechzig Sekunden!«, schließlich einmal jede Sekunde, »noch

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zwanzig Sekunden! Neunzehn, achtzehn, siebzehn, sechzehn«, niemand saß mehr, »vierzehn, dreizehn, zwölf, elf«, Marta, Georg und Peter sahen sich erwartungsvoll an, »neun, acht, sieben, sechs«, Kraker und Lisa lagen sich schon mit zwei fremden jungen Skilehrern in den Armen, »vier, drei, zwei, eins«, und als das letzte Jahr seiner Bande abgelaufen war, trommelte Toni Brenninger wie ein Wahnsinniger mit einem Suppenlöffel auf eine Bratpfanne ein, und seine in einem monströsen Schneesturm kieloben treibende Hütte bebte die lauteste, fröhlichste und überschwenglichste Antwort in die geologische Geschichte der Alpen … Vier Stunden später sah es in der Gaststube aus wie im Vordämmerungsschein einer Bahnhofshalle: Es waren nicht mehr viele übrig, die meisten lagen wohl oben in ihren Betten, manche in Alkohol-, Schweiß- und Tauwasserlachen auf oder unter den Tischen, auch die Ausdünstungen der gepolsterten Eckbänke waren sehr bequem. Marta war auf einem Stuhl erwacht und erblickte Lisa, die schlafend auf dem Boden saß, rücklings gegen die Wand neben der Tür zum Treppenhaus gelehnt, auf ihren Schultern zwei fremde leblose Männerköpfe. Peter Schlenz schlief auf einem Barhocker an der Theke, den Kopf in Brenningers Bratpfanne abgelegt. Doch wo war Brenninger? Die Deckenlampen schmolzen unbeirrt ihr zähes, käsegelbes Stövchenlicht, doch anstelle ihrer Bande blendete aus dem weiten Gläser- und Flaschenfriedhof ein eisiger Glanz. Sie hatte doch viel weniger getrunken als die anderen, obwohl sie viel mehr vertrug. Es waren die Menschen aus ihrem alten Leben. Plötzlich brach Brigitte (die zu den beiden uninteressanten Ehepaaren gehörte) durch die Tür neben Lisa herein und rief:

»Das müßt ihr euch ansehen, so was habt ihr noch nie gesehen!«

Marta folgte ihrer besten Freundin (die sie während all der Feierstunden nie gefragt hatte, was ihr eigentlich im Schneesturm auf den Tiefschneehängen widerfahren sei) durchs Treppenhaus zur bergseitigen Eingangstür und nach draußen auf die Terrasse.

Dort war die abgestumpfte Brenninger-Bande staunend in ein Wunderland regrediert. Die Welt war schwarzweiß: Es gab den Schnee, der das Gebirge verwüstet hatte, bis auch Wälder und Gipfel nur noch Dünen waren, und darüber den wolkenlosen Nachthimmel, in dem der Eismond schien. Marta hätte wissen müssen, daß sie diesen Hang, der ihre Schneeschuhe geradewegs mit dem Mond verband, gestern nachmittag tot, den Skilehrer Wolfgang im Rücken, hinabgetaumelt war, doch sie sah nur das weiße Sonnenlicht, das die Wüste transluzierte. Es schien aus dem Inneren

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der Berge. Die Brenninger-Bande war versunken, stille einig, daß sie nun durch diese wunderbare Wirklichkeit ins Tal abfahren würde. Als Brenninger seine Bande ein letztes Mal zurück in die dünenförmige Hütte führte und Georg sie fragend ansah, fiel Marta ein, daß sie noch die sackartige Wirtstochtertracht trug, in der sie langsam, wie durch Treibsand, hinab auf die Terrasse sank. Sie erinnerte sich nicht, wo sie ihren Skianzug zum Trocknen aufgehängt hatte.

(Welche Szenen, die ich vor dem grausigen Ende unbedingt noch unterbringen will, hatte Marta verschlafen?

Nach dem mitternächtlichen Ballyhoo saßen Brenninger und Kraker, beide volltrunken, zweisam an der Theke und tuschelten wie Mädchen. Als Kraker kotzen ging, winkte Brenninger Georg Traube und Peter Schlenz zu sich und gab »den beiden neuen Freunden meiner Frau« eine Flasche Marillenschnaps aus. Der hilflose Peter war bald bewußtlos, Georg rettete und der Häuptling langweilte sich. Es war kurz nach eins, als Brenninger zum ersten Mal seit fast zwölf Stunden aus dem Giftgestöber der Gaststube nach draußen drängte. Alle Türen waren zugeschneit. Er mußte, assistiert von seiner Bande und der Wirtstochter, aus einem Fenster des dritten Stockwerks durch einen Waldrand von Eiszapfen, die wie halb ausgegrabene Riesenkristalle den Höhleneingang verstellten, einen unbekannten Tiefschneehang hinunterrutschen, um sich zu überzeugen, daß es zwar noch schneite, aber nicht mehr stürmte, und nachdem seine Bande ihm mit mehreren Schneeschaufeln in die Höhle hinterhergerutscht war und begonnen hatte, einen Hohlweg zur bergseitigen Terrassentür freizuschippen, – sogar Kraker schippte –, gab Brenninger bekannt, daß sie in wenigen Stunden ins Tal abfahren würden. Alle entsetzten sich. Kraker lallte: »Bist narrisch, Toni?« Und als sie wieder an ihrem Stammtisch saßen, belehrte ihn der vorbeigehende Wirt darüber, daß jeder, der vor Tagesanbruch und vor den Pistenhobeln in den Hang gehe, ob besoffen oder nicht, zur Hölle fahre.)

(Als derselbe Wirt dann zwei Stunden später verzweifelt versuchte, die Höllenfahrt der Hüttenhelden doch noch zu verhindern, indem er sich weigerte, abzurechnen, suchte Marta gerade in den Privaträumen im ersten Stock nach ihrem Skianzug. Während sie im zweiten Stock am Waschbecken einer Gästetoilette einen Liter Leitungswasser trank,

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teilten sich Brenninger und Kraker die Rechnung: Sie hatten gedroht, sie bis zum nächsten Mal offen zu lassen, und der Wirt wußte, daß es für diese Bande kein nächstes Mal geben würde.)

Als Marta in ihrem heimeligen Anzug aus den Sechzigern, Skier über der Schulter, zum letzten Mal ihre Hütte verließ, war die Brenninger-Bande bereits hinabgefahren. Georg Traube und Peter Schlenz starrten, auf ihre Skistöcke gestützt, in das bodenlose Loch, das Peter in den Schnee gekotzt hatte. Der bedauernswerte junge Mann hätte auch nüchtern keinen jungfräulichen Hang überstanden, doch es gab kein Entrinnen mehr. Die drei Ausgestoßenen verharrten eine weder von Marta noch von mir je bestimmte Zeit in dieser zum intergalaktischen Raum hin offenen Höhle, reglos, wortlos, von ihren Anzügen und ihren verlängerten Extremitäten vor dem Vakuum geschützt. Ihr Atem war sicher auch vom Mond aus sichtbar, und die nachfestlichen Geräusche, die ab und zu aus der verschütteten Hütte klirrten, hallten an dessen dunkler Seite vorbei. Irgendwann wuchtete Peter Schlenz seine Kufen in eine der Tiefschneespuren, die von der Brenninger-Bande übriggeblieben waren, und schob sich über die ehemalige Terrasse auf den Talhang zu. Marta Brenninger und Georg Traube blickten sich an und folgten ihm.

Sie ließen sich über einen glitzernden Grabhügel, unter dem Marta abenteuerlicherweise die Tische und Bänke vermutete, auf denen sie sich früher an sonnigen Wintermittagen berauscht hatten, und die flache Retardation hinab bis zum Rand des Abgrunds gleiten, wo sie abschließend innehielten. Die weißglühende Nachtsonne hatte die kilometerhohen Enddünen der Zentral- und der Nördlichen Kalkalpen angesteckt, zwischen denen – aus dem scheinbar immer noch bewohnten Tal – der vereiste Zeller See Photonen spie, und obwohl die Spuren der anderen das gleißende Lichtpulver zu ihren Füßen bis zu seinem Ursprungsort hinab durchschatteten, in sich unentwirrbar kreuzenden Schlangenlinien, wußte Marta, daß Peter Schlenz verloren war. Warum ließ sie dieses grausige Ende zu? Logischerweise habe ich sie nie gefragt …

Was würde mir Marta heute auf diese absurde Frage antworten?

»Die Berge unter Pulverschnee, das ist das Schönste, was ich je gesehen habe! Diese Ruhe! Dies Einsamkeit!« … Marta fuhr voraus, eine unvergänglichere Spur zu hinterlassen als die anderen, Georg blieb hinter seinem Freund. Ich

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kann mich nicht erinnern, daß Marta jemals explizit zugegeben hätte, daß dies die schönsten Tiefschneeminuten ihres Lebens waren, aber natürlich erinnere ich mich kristallklar an den Mondstaub, in den sie sich mit jedem Schwung verwandelte und aus dem sie erst spät entschleierte, daß Peter Schlenz sie überholt hatte. Er wurde ausgehoben, verbreitete sich ekstatisch durch die grelle Nacht und verschwand im Berg. Marta und Georg blieben nebeneinander stehen. Hatten sie wirklich gesehen, daß unter dem Stürzenden der ganze Überhang in den Zeller Krater abging? Erst als sich in der Tiefe etwas Ungestaltes aus den Klumpen defragmentierte, in die das Schneebrett die schönsten Zeiten aller Alpen entstellt hatte, wurde vom Mond aus wieder Martas und Georgs Atem sichtbar. Georg rief nach unten, Peter schrie, er habe etwas im Auge, er habe Schnee im Auge, und als er sich den Schuh auszog und sich grob mit der bloßen Hand ins Gesicht faßte, pflügten sie vorsichtig zu ihm hinab. Er hatte Ski, Stöcke, Mütze, Brille abgegeben und war offenbar mit offenen Augen in die Kristallwelt eingetaucht. Georg und Marta, zwei Meter unter ihm, sahen zu, wie Peter Schlenz sich mit aller Kraft die Finger seiner rechten Hand ins rechte Auge bohrte, einen Fremdkörper herausriß und ihnen präsentierte. Synchron arbeiteten sie sich zu ihm hinauf, der seine Hand offen neben seiner Nase hielt. Auf seiner Handfläche lag, leuchtend und rund, wie zum Hohn auf Erde und Mond, sein rechtes Auge, das am Sehnerv aus der blutenden Höhle hing.

*

Müssen wir von vorne beginnen? Hat der Krieg unsere Erzählung zertrümmert, wie er die Welt zertrümmert hat? Der Höllenlärm und die Erschütterungen haben unsere Worte übertönt und lächerlich gemacht, bis wir verstummten: Gehört das schon Erzählte nun einem anderen Leben an, einem Leben vor einem unüberbrückbaren Abgrund, einer existentiellen Scheide? Können wir an eigene Worte, die wir sprachen und die wir erinnern, die wir aber selbst nicht mehr verstehen, nun nicht mehr anknüpfen? Die Geschichte ist verstummt, ein rauchendes Trümmerfeld des Todes ist zurückgeblieben, wie ein nebliges, vogelloses Morgengrauen, – es herrscht erneut das Schweigen, das aller Geschichte vorausgeht –, und von Erd-, Stein- und Verwesungsdämpfen, von den Eingeweiden der geopferten Lebewesen inspiriert, sehen wir, wie über dem grabesstillen Ruinenskelett der zerschmetterten Siedlung, wie zwischen den

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riesenhaften Rauch- und Staubgebirgen, die aus dem leblosen Schlachtfeld, der ehemaligen Siedlung, himalayahoch empornebeln, eine Vision erscheint, eine Vision des Anfangs, des Von-vorne-Beginns: zwei winzige Menschen im riesigen, tiefverschneiten Hochgebirge. Müssen wir von vorne beginnen? Müssen wir abermals erzählen, wie die beiden winzigen Menschen in dem gigantisch-zerklüfteten, menschenleeren, von einem Eis-, Schnee- und Nebelmeer bedeckten Felsmassiv ihre rührenden, mitleiderregenden Spuren hinterließen? Müssen wir abermals erzählen, wie sie glücklich und übermütig ihre kunstvollen Schlangenlinien durch den Tiefschnee zogen, ohne zu ahnen, daß hinter und über ihnen die stolzen Serpentinen ihrer Ski so schnell wieder verlöschen würden wie Kondensstreifen an einem klaren Himmel? Am 31. Dezember 1971, zehneinhalb Stunden vor dem Jahreswechsel, dreiundzwanzig Jahre, sechs Monate und acht Tage vor dem Untergang der Würmsiedlung, schweiften Marta Brenninger und ihr Skilehrer Wolfgang, unter, nein: in einem weißlich-grauen Winterhimmel, bei leichtem, gefälligem Schneefall, einen ungesicherten, gesperrten, vollkommen einsamen Tiefschneehang hinab, auf über 1500 Metern Meereshöhe, inmitten der schroffen, teils weißbewaldeten, teils vereisten und vergletscherten Felswände der Grenzzone von Zentral- und Nördlichen Kalkalpen. Mit schnellen, gekonnten Schwüngen bewegten sie sich durch den aufschäumenden Pulverschnee dieses grotesk überpolsterten Hanges, hielten auf jedem noch so geringen Absatz inne, um sich der ungeheuerlichen und unglaubwürdigen Szenerie zu vergewissern: Vor ihnen verbreitete sich ein regloses, unberührtes Pulverschneemeer, umschlossen von einer verschleierten Steilküste aus brutal aufgefaltetem Meeresgrund, hinter ihnen schweiften ihre undeutlichen Spuren aus dem Himmel. Die Stille und die Einsamkeit waren absolut. Unwillkürlich hielten sie den Atem an, um mit diesem unbedingten Urschweigen, das sie in Gestalt einer dräuenden Hochgebirgsgigantomachie umgab, zu verschmelzen. Nach einer zeitlosen Zeit in diesem unbedingten Urschweigen hatten sie auf einmal begonnen, den Schneefall zu hören: Sie hörten die lebendigen Kristalle mit einem winzigen, rührenden Knirschen auf die Schneedecke niedersinken. Aus unserer Perspektive – aus unserer höheren (oder besser: tieferen) Perspektive – sieht in dieser Urlandschaft auch die Bewegung der beiden Skifahrer wie Stille aus: Der noch unmerkliche Kampf der Berge gegen

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den Himmel überspannte die Atmosphäre mit einer gigantischen mechanischen und akustischen Energie, unter der alles Sichtbare zu versteinern, Teil des steinernen Meeres zu werden schien. Marta ahnte zunächst gar nichts. Einer ihrer eitlen Schwünge zerstäubte soviel Pulverschnee, daß der eisige Kristallstaub sie plötzlich allseitig umwirbelte. Sie fühlte sich, inmitten eines aufbrausenden weißweißen Taumels, von einer unbeherrschbaren Gewalt davongetragen und jauchzte vor Vergnügen, und erst als ihr Jauchzen von einem unirdischen wölfischen Geheul, das um die Gipfel der Alpen strich, verschlungen wurde, ahnte sie, daß über das reglose, gefällige Urschweigen ein Schneesturm hereingebrochen war. Wolfgang, als er das Chaos sah und den Gletscherwind spürte, erschrak – ließ sich aber (wie er sich eine Ewigkeit später, kurz vor seinem Kältetod, eingestehen sollte) den Verstand trüben und die Sinne verwirren: Als die beiden Tiefschneesschwärmer nebeneinander auf dem mittleren Absatz des Hanges zum Stehen gekommen waren, hatte der Sturm nachgelassen, aus dem verdunkelten Himmel, der graue, fransig aufgerissene Wolkenschlünde direkt über ihre Köpfe peitschte, stöberte ein Niederschlag auf sie herab, der wie zäher Nebelrauch das ganze Hochgebirgspanorama füllte, und um Marta, die von dem Treiben mitgerissen war, nicht zu enttäuschen und nicht zu beunruhigen, und wohl auch, weil er sich nicht eingestehen wollte, wie taub er für seine ureigenen Berge gewesen war, ließ der Skilehrer Wolfgang sich überreden, noch einmal so weit aufzusteigen, daß ihnen als Fluchtperspektive auch der Osthang dieses verwunschenen Bergrückens offenstehen würde. Dort wurde das Unwetter dann apokalyptisch. Mit Urgewalt und unter Höllenlärm rasten Schneenebel und gasförmiges Eis, das unmittelbar vom absoluten Nullpunkt hereinbrach, zwischen die erschütterten Berge und verwandelten die zeitlose Urlandschaft in ein uranfängliches und endzeitliches Inferno. Augenblicklich herrschte vollkommenes weißes Schwarz. Marta, schneeatmend, war immer noch, wie von einem letzten Lebensrest, von ihrer Tiefschneeleidenschaft beseelt und fragte sich immer wieder, ob ihre Schwünge auch in diesem umwerfenden Tohuwabohu noch so professionell aussähen. Sie wollte ihren Skilehrer fragen, doch alles um sie herum war vernichtet, und nach ihrem ersten Sturz in die wabernde Oberfläche, bei dem sie ihre Mütze und einen ihrer Skistöcke verlor, war die Eitelkeit gewichen. Wolfgang, Martas Skilehrer, war irgendwo in diesem katastrophalen Nichts stehengeblieben und wußte, daß sie sich nicht wiedersehen würden. Der Osthang

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war sehr lang und sehr steil und wurde, je weiter er in die Tiefe stürzte, schmaler und schmaler, und irgendwo dort unten hätten sie an einer bestimmten Stelle einen Durchstieg durch den Wald finden müssen, der zurück auf die planierten Pisten führte. Sie würden entweder von den unsichtbaren Bäumen, von denen sie schon ausweglos umzingelt waren, erschlagen oder unter den monströsen Schneemassen – über sie gebreitet vom Sturm oder von einer Lawine – erdrückt und zu Eismumien gefroren. Wolfgang konnte nicht glauben, daß er Marta nicht sofort bei den ersten Anzeichen eines Wettersturzes zum Rückzug gezwungen hatte. Marta auf ihrer einsamen, blinden Reise die Alpen hinab stürzte unzähligemal und geriet nach und nach in einen Zustand hellsichtiger Levitation. Das Pulverschneemeer, das ihnen eben noch reglos und unberührt zu Füßen gelegen hatte, brandete wie ein orkangepeitschter Ozean in flutwellenhohen Riesenbrechern gegen die untergetauchte Steilküste und drohte eine schutzlos zwischen die Felsfronten geratene Tiefschneeschwärmerin zu verschlucken und zu ertränken. Der Höllenlärm des Sturmes war kaum mehr von der absoluten Stille zu unterscheiden, aus der er geboren war, und die wundersame Einsamkeit der Urlage hatte sich mit einer tobsüchtigen Landschaft bevölkert. Marta fühlte sich nackt in der glühenden Todeszonenkälte und schneeverkrustet wie ein Kosmonaut. Zum allerersten Mal, während sie immer nachlässiger ihren letzten Stock seine unsichtbaren Schlangenlinien durch den Himmel ziehen und sich immer unmerklicher stürzen ließ, dachte Marta an Brenninger. Vor Ewigkeiten, (es waren kaum eineinhalb Stunden), in einer anderen Welt und in einem anderen Leben, hatten sie und Wolfgang, einige hundert Meter höher über den Wolken, hinter irgendeinem der feigen Krustengiganten, von denen sie umzingelt war, an der Liftstation den jammernden Brenninger zurückgelassen, der mit seiner eher unfähigen Bande auf den normalen Pisten bleiben mußte. Inzwischen hatte sich die Brenninger-Bande wohl längst in ihre geliebte Hütte gerettet und wußte, daß ihre Anführerin verloren war. Ob sie die vereinbarte Zeit, Treffpunkt fünfzehn Uhr, schon überschritten hatte? Marta sah hinter und über sich die Verschlingungen der beiden Spuren im stillen Tiefschneespiegel wie dunkle Luftschlangen, die sich aus den Wolken wanden. Beinahe empfand sie nun Mitleid mit Brenninger, was ihr noch nie passiert war. Aber sie wußte, daß sie ohnehin nie wieder zu ihm zurückfinden würde. Marta nahm nicht mehr wahr, ob sie gerade stehend oder fallend den Absturz hinabtrieb. Sie hatte keinen Skistock

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mehr, keine Mütze, keine Brille, keinen Atem, und sie hatte keine Vorstellung, ob die elementare Gewalt in ihrem Gesicht die Schneedecke war, das Schneetreiben oder die Gischt. Ob ihr Gesicht gerade in den Himmel blickte oder in die Hölle? Es kam ihr vor, als würde sie von einer unablässigen Staublawine mitgerissen und kilometerhoch in die Schneesphäre gewirbelt, alle Alpengipfel weit hinter und unter sich lassend. Nachgiebig sank sie in die Knie und hockte sich erschlafft auf ihre Skier und ließ sich bereitwillig und ungebremst durch den bösartigen Schneekosmos tragen, und während sie sich leicht und widerstandslos in das unendliche Hochgebirgspanorama erhob, das sie mit weit ausgebreiteten Schneefeldern empfing, spürte sie keine Schmerzen mehr, keine Kälte, keine gnadenlose Gewalt und keine Angst vor dem Ersticken. Wolfgang hatte in der Unendlichkeit dieses finsteren weißen Alls jede Vorstellung von der Welt und vom Leben verloren. Anfangs, nachdem der erste Schock über die Erblindung seiner Berge verweht war, hatte er noch gehofft, auf Marta zu stoßen, und war so langsam wie möglich und so ausgreifend, wie er sich in der drohenden Enge getraute, den unwägbar steilen Hang entlanggeglitten. Plötzlich, wie ein verirrter Wellenreiter auf einem kollabierenden Brecher, war er in dem undurchsichtigen Chaos auf einer Wächte einen Absturz hinabgebrandet und unkontrolliert über eine nie gesehene Steile in der Steile gegen die schneeverhangene Waldwand geschlittert, an der er beinahe zerbrochen wäre. Desintegriert, hatte er zunächst seine Schneefüße nicht finden können, bei dem Parforceritt abgefallen und untergegangen, war in Panik geraten, schließlich hatte er sich mit halsbrecherischem Tempo, voller Furcht und richtungslosem Zorn, haltlos dem tobenden offenen Tiefschneemeer überlassen. Todesängstlich, todesmutig, lebensmüde und dem Leben fern, im Bewußtsein, Marta getötet zu haben, preschte er nun seit Ewigkeiten durch den zeitenlosen Sturm. Längst hatte ihm der schneegesättigte Orkanodem jeden Atem ausgetrieben, jeden Sinn erfroren, war ihm mit Höllengewalt und Höllenlärm in die Schädelhöhlen gedrungen … Waren ihm die Böen einst in den Rücken gefallen, hatten sie ihn wie eine Flocke durch die Kristallwelt gewirbelt … Doch das besinnungslose Brüllen hatte ihn ebenso von vorn bestürmt und ihm so ungestüm die Stirn geboten, daß er nun dem Glauben anhing, er bewege sich auch auf molekularer Ebene nicht mehr vorwärts, er sei mitten im Schwung zu einer Eisformation erstarrt. Er konnte nichts mehr sehen, nicht einmal nichts, sein Gesicht, von verharschtem Schnee überkrustet, war ein

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exponierter Gipfelgrat oberhalb der Gletscherzone. Ohne Sinn für Raum und Zeit, ohne Vorstellung, wie lange die Welt vernichtet war und auf welcher Höhe er und Marta dieses Nichts belebten, bewegte sich Wolfgang bewegungslos durch den Hang. Und wurde plötzlich von einem Gefühl erfaßt, das ihn allen Qualen und aller Finsternis enthob: Er fühlte, daß es immer so gewesen war. Er fühlte, daß sie seit jeher, seit unvordenklichen Zeiten, seit dem Anbeginn aller Tage, auf diesem Berg, durch diesen Schneesturm talwärts schwangen, er fühlte, daß er und Marta schon immer, seit der Geburt der Welt, gegen diesen eisigen Wahnsinn kämpften, – und er fühlte, daß es immer so bleiben würde, er fühlte, daß sie für alle Zeiten ziellos in diesem lebensfeindlichen All unterwegs sein würden, daß dieser verheerte Tiefschneehang niemals enden und sie immer weiter, endlos das Nichts entlang, talwärts zwingen würde, daß sie niemals irgendwo ankommen, sondern immer weiter durch diese zeitlose Urwüste abfahren, daß sie sich bis zum jüngsten Tag, bewegungslos, ohne jemals voranzukommen, durch diese wesenlose Schneewelt fortbewegen würden. Es war ein Gefühl wie eine ortlose, unvorstellbar kleine, aber allumfassende schwarze Stelle, die von anderswoher in sein Bewußtsein fiel und alles gebar und verschlang. Es war ein Gefühl, urgeheuerlich, urglaublich, von so urgreifbaren Ausmaßen, so schrecklich und so anbetungswürdig schön, daß er es nicht behalten konnte, nicht behalten wollte, nicht behalten durfte. Er mußte es bezweifeln. Und er bezweifelte es, indem er sich erinnerte. Er erinnerte sich an seine Urgefährtin, wie sie ihn überredete, nocheinmal aufzusteigen. Er erinnerte sich, wie sie durch den Schneesturm aufstiegen, um durch den Tod abzufahren. Er erinnerte sich, daß er seine Mitfahrerin getötet hatte und daß auch er getötet worden war. Und in diesem Moment erinnerte er sich, daß er stehengeblieben war. Er erinnerte sich, daß er schon vor Ewigkeiten das Gefühl gehabt hatte, stehengeblieben zu sein. Schon vor ewigen Zeiten hatte er gespürt, daß die Zehen seiner Schneefüße in ihrer unsichtbaren Ursichtbarkeit aufwärts standen. Er mußte, während all der vergangenen unverständlichen Unendlichkeiten, wohl doch in Bewegung gewesen sein, da das Gefühl des Stillstandes, an das er schon ein ganzes kosmisches Zeitalter glaubte, nun unbezweifelbar geworden war. Er glaubte, am linken Außenrist des Hanges gestrandet zu sein, wo, unweit des Durchstieges, das abgeschwächte Gefälle sich zum Ansatz einer Steigung aufwarf. Gläubig drehte er seine tiefbeschwerten Skier in exakter Wendung um hundert Grad nach

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links und wuchtete sich kraft seiner Fieberglasstöcke über das scheinbar ebene Gelände auf die wundersame Hoffnung des Waldrandes zu, an der sich tatsächlich schon nach wenigen Schüben die aufgebogenen Spitzen seiner Kufen stießen. Nachtwandelnd tastete er sich, das taube Gesicht an weißer Borke reibend, von Baumstamm zu Baumstamm und hing, wie ein Ertrinkender an einer Traumgestalt, an jenem überlebensgroßen Tannenstumpf, der wie eine abweisende, rettende Klippe in die Brandung ragte. Griffs seines rechten Stocks kratzte er in Augenhöhe den felsenharten Schneepanzer von der Rinde und legte auf Anhieb, in halluzinatorischer Präzision, das rätselhafte Zeichen frei, das den Durchstieg durch den Nadelwald markierte: drei ineinandergestellte V, eins dem anderen als Behältnis gegeben, ein nach oben und unten ins Unendliche fortsetzbares Symbol, seit Menschengedenken in dieses fossilisierte Holz geritzt, dessen Herkunft und wahre Bedeutung heute niemand mehr enträtseln konnte. Fast besinnungslos vor Staunen und Erleichterung, lehnte Wolfgang seine Stirn gegen die Wundmale des Baumes und lachte lautlos aus seiner schockgefrorenen Physiognomie in die steinalte Rinde, als schwöre er ein Dankgebet ob seiner wundersamen Rettung; bis ihn plötzlich, aus dem Hinterhalt, die Erinnerung überfiel und ihn gemahnte, daß auch er dem Kältetod verschworen war: Verstoßen taumelte er von dem numinosen Stumpf zurück und stierte entgeistert die Aussichtslosigkeit des Hanges hinauf, in die unbelebte, rettungslose Schneehölle, in der fehlte. Es war seine Schuld! Er war schuld am Kältetod! Er war schuld, daß tot war – und er konnte unmöglich alleine lebend zurückkehren. Wußte, als er mumifiziert, aber lebendig am Fuß des schneeblinden Tiefschneehanges stand, unmittelbar vor dem aufklaffenden Bergwald in die gesicherten Gefilde, wußte, daß dieser Augenblick dieses Schneesturms für ihn ausweglos war – so wie für Unerfahrene schon der erste Augenblick dieses Schneesturms ausweglos gewesen war. Wußte, daß der Kältetod für ihn unentrinnbar war. Und dennoch begann von irgendwoher das zu suchen, was ihm das Aufklaffende öffnen könnte. Er hatte, an der toten, versteinerten, verstümmelten Pforte dieses überzeitlichen und weltenfernen Bergwaldes, die schon verloren geglaubten Spuren wiedergefunden. Oben, in höheren Regionen, war ein Schneesturm in diese einstmals gemäßigten Schluchten eingefallen aus Dimensionen, aus einer jenseitigen Zone, es war ein Jahrhundertblizzard, die Pinzgauer Apokalypse, unmöglich und unvorhersehbar, und der Schrecken – er erinnerte sich jetzt sehr klar an den

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Scheitelpunkt auf dem mittleren Absatz des Nordhanges –, der innigste Schrecken und die äußerste Marta hatten ihm den Verstand getrübt und die Sinne verwirrt. Und während also irgendwo in ihm sein Leben gegen etwas anderes kämpfte, während er in mächtiger Bewegung, von Orkan und Schnee bestürmt, vor dem riesenhaften Baumstumpf und dem unergründlich-heilbringenden Menetekel schwankte und wie ein organischer Pulsar bald im Schneeall zu verlöschen, bald es zu durchstrahlen schien, während überall Anfang und Ende, Tod und Geburt – waberte plötzlich eine Form irgendwo ins Unförmige, formte sich plötzlich eine Gestalt unter ihm aus dem Ungestalten, gestaltete sich plötzlich ein Wesen neben ihm aus dem Wesenlosen: Zwischen seinem linken Skistock und seinem linken Ski, so nah, daß er sie unterscheiden konnte, aus der Richtung, in der er den Hang vermutete, von vorn: gelangte, ganz langsam, geisterhaft, auf ihren Skiern, Marta zum Stehen, oder besser zum Hocken, denn sie hockte auf ihren Skiern, ohne Skistöcke, ohne Mütze, ohne Skibrille, eingekauert, das Gesicht in den überknieverschränkten Armen verborgen, tot, bewußtlos, schlafend oder schicksalsergeben in eine embryonale Schwebe, Runde, Todeswillkomm … Marta Leben! Marta lebte! Wolfgang, plötzlich voller unendlich weitem freiem leerem losem Geist, hob die Versunkene an ihren schlaffen Schultern empor und suchte ihren Blick, ihre Augen lebten, sprach sie an, was sie nicht zu hören schien, schrie sie an, was er selbst nicht hörte, er hörte, daß jeder seiner Laute, bevor, zuvor, von dem gräßlichen Sturmgeheul zerrissen wurde. Marta lebte! Er gab ihr seine Stöcke, seine Mütze, seine Brille, versuchte, sie zu wärmen und aufzurütteln. Nun mußte sie ihm folgen, Millimeter hinter ihm, damit sie im nebulösen Wald seine schattenhafte Gegenwart von den Schemen der Bäume unterscheiden konnte. Ohne in der Not und Hast ein letztes Mal darauf zu achten, glitt Wolfgang, getrieben von einem seiner Stöcke, an dem freigelegten magischen Zeichen vorbei ins Holz. Die nahezu ebene Felsenschleuse durch das Tannicht, die Skilehrer Wolfgang schon so oft durchstiegen hatte, war in eine fremdartige, entstellte Welt entrückt, hinübergedehnt: Meterhohe Schneeverwehungen wellten sich wie Wanderdünen um die kahlen, weißbemoosten Stämme, rollten wie gewaltig schwerer, auf dem Höhepunkt des Sturms gebannter Seegang durch den vertikalen Raum. Die Landschaft, an gewöhnlichen Wintertagen durch ihr Felsenmuster und ihre unveränderlich-asymmetrische Ordnung lesbar, war unkenntlich. Nur dank seines wiedergeborenen Hochgebirgsin-

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stinktes – Martas Skispitzen wurden manchmal, bei versetzten Stockschüben, zwischen seinen Beinen sichtbar – vermochte Wolfgang, durch diesen Mondwald, unter dessen breiten, weißgeplusterten Schwingen die Sicht nun doch zumindest Meter betrug, zu navigieren. Obwohl er sie regelmäßig in Gestalt zweier bewegter Kufen zu seinen Füßen erfuhr, wandte er immer wieder seinen Kopf, um sich der unwahrscheinlichen und erschreckenden Gegenwart seiner Urbegleiterin zu vergewissern: ihrer aus dem Mondstaub hervorwachsenden Schneegestalt, ihres vereisten Astronautenkopfes, der wie ein Komet, von einer Staubkoma umstrahlt, seine Bahn hielt. Kristalliner Nebel, im Sog der ausgebreiteten Fichtenschwingen auf Schallgeschwindigkeit beschleunigt, verschleierte manchmal Martas dimensionslose Augen. Wohl schon nach wenigen Minuten – das Zeitorgan blieb auch in dieser gemäßigten Zone hypertroph – hatten die beiden Weltengleiter das Felsportal erreicht: Durch einen kurzen, aber monumentalen Hohlweg, dessen beklemmende Granitwände fast vollständig von martialischen Eiskaskaden überquollen waren, gelangten Wolfgang und Marta an den Rand einer steilen, zwei bis drei Meter tiefen Böschung, an deren Fuß sie der Sturm und ein schmaler, im Schneedämmer immerhin erahnbarer Ziehweg erwartete:

Hatte der Pinzgauer Jahrhundertblizzard seine Zeit bereits gehabt?

Der Zeller Skilehrer Wolfgang und die wiederauferstandene Marta Brenninger ließen sich, aufrecht und meist unbewegt auf ihren Skiern ruhend, Marta mit zwei nutzlos durch den Neuschnee schleifenden Stöcken, von dem flachen, vernünftigen Ziehweg westwärts tragen und konnten auf diesem erholsamen Transfer das geronnene Gestöber – den aus der gesättigten Atmosphäre ausgefällten Schnee – augenscheinlich übersinnlich durchschauen, so daß sie sogar in den (zugegebenermaßen harmlosen) Kurven ungefährdet blieben. Der zwar gesperrte, aber eigentlich planierte Weg zog sich an der Steilwand einer Schlucht entlang, und Wolfgang, der, ohne seine Gleichgewichtsstützen, abermals vorausglitt, fragte sich, ob die schützende Natur – links die vereiste, fast senkrechte Felswand, die immer höher stieg, rechts die schlohweißen, jahrhundertealten Fichten am Rand des Absturzes –, ob diese mißachtete Klamm sie tatsächlich so mütterlich beschirmte, daß sie nahezu unantastbar blieben, fast wie im Durchstieg: oder ob das Pinzgau seine über die Tiefschneewelt hereingebrochene Apokalypse vielleicht gar nicht erlebt hatte? Als sie dann freilich,

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wiederum nach wenigen Minuten, die Einmündung in die Piste erreicht hatten, die in direktem Gefälle zur rettenden Brenninger-Hütte beförderte, wußte Wolfgang sofort: An diesem Silvesterabend würde doch mehr zu Ende gehen als das Jahr 1971. Vor ihnen nichtste. Nun mußte sie vorausfahren. Jeder Sturz hätte sie sonst abermals verlöschen können. Keiner der beiden Gemarterten fühlte mehretwas. Marta, ohnehin in einem ferneren Zustand, war nur noch ein Gewitter aus Nervenimpulsen und schwitzte aus ihrer unempfindlichen Hülle, ohne zu frieren, gefrorene Lymphe. Wolfgang, auch wenn er Abstand hielt, konnte Marta sehen, wunderte sich nicht, daß er ohne Krücken die Abfahrt bewältigte, und wußte, – doch es bedeutete ihm nichts –, daß sie beide gerettet waren. Die Hütte, rechter Hand, tauchte wie ein ultrahocherhitztes Insekt aus der Milch. Ein großes, mehrstöckiges Bauernhaus, und sein dunkler Holzkörper waberte wie ein löchriger, ausgefranster, entkernter Panzer durch das Weiß. Zwei steuerten sich auf die diffus überquollene. Sie hörten, als sie vor der Tür ihre Füße abschnallten, Musik und Gelächter. Und es war ihnen unmöglich, mit diesen Geräuschen ihr Leben zu verbinden.

(1997)

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»Fragmente, Zettel, Blätter – und nichts fertig –:«

An der Wohnzimmerwand eines Würmsiedlers, der in einem kleinen Reiheneckhaus am Rande des Siedlungsgebietes (auf einer anderen Ebene aber im Zentrum des Siedlungsgeschehens) wohnte, über dem Lesesessel von Maximilian Eisenreich, hing ein Kunstwerk, das – seit ich es als Kind erstmals gewahrt habe – wie die bimssteinradierte Ursprungsschrift eines Palimpsestes allen Landkarten meines inneren Siedlungsgebietes zugrundeliegt: eine große, rechteckige, verknitterte Papierleinwand, zerknüllt und wieder ausgebreitet, eingefaltet und entfaltet, über deren weißen Bergen und Tälern eine verschwimmende schwarze Linie wie ein ausufernder Fluß eine glatzköpfige männliche Büste im verlorenen Profil umriß.

Die Würm, ein kleiner, aber bedeutender Fluß, der noch immer der letzten alpinen Eiszeit seinen Namen leiht, Abfluß des berühmten Starnberger Sees, der einst Würmsee hieß, beschreibt im einst eigenständigen Menzing, das erst 1938 von der nationalsozialistischen Diktatur nach München zwangseingemeindet worden ist, eine ähnliche Figur: sanfter Buckel, Nacken, Glatze, verlorenes Gesicht, Hals und schmale Brust, (kindlich hielt ich Einsenreichs Wandkunst jahrelang tatsächlich für eine Landkarte des Siedlungsgebietes), wobei das Territorium Würmiens – wie wir im Sieldungswiderstand das Würmland nannten – nur im Kopf lag, die Halsnackenenge definierte die Grenze zu Obermenzing.

Ungefähr auf Schläfenhöhe hatte einst Schloß Blutenburg geprangt, von dem das mittelalterliche Menzing jahrhundertelang regiert (und das im Dreißigjährigen Krieg erstmals zerstört) worden war. Als Anfang des Jahres 1974 ein Raumschiff am Siedlungsufer der Würm landete, war nicht einmal mehr die Schloßruine geblieben (Katakombe und Fluchtstollen waren noch nicht entdeckt). Für die Geschichte des Schlosses interessierte sich damals niemand mehr, die Geschichte der Schloßruine dagegen gehörte bald zu den Gründungsmythen Würmiens. Der Schloßruinenmythos aber wurde, anders als die Silvestergeschichte, nicht von Marta Traube tradiert; Gerd Strittmatter, der legendäre Siedlungsarchitekt, hatte mit diesem Gesang eines Jahres ein Gegenritual zum Silvesterritual initiiert, zum

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alljährlichen Verdruß von Karl Stein, der Abweichungen von der alljährlichen Prozedur nicht vertrug. Ich für mein Teil sollte viele Jahre später, nachdem Würmien, völkerrechtskonform, aber grundgesetzwidrig, ein Mikrostaat geworden war: die Freie Republik Würmland (FRW), als Führer des Siedlungswiderstandes an einer Sammlung nationaler Mythen scheitern – welches Scheitern mich heute instandsetzt, von meiner wechselvollen Erinnerung an die umstrittenen Siedlungsrituale (»Marta erzählte« – »Gerd Strittmatter erzählte«) abzusehen und, um die Schloßruine und Gerd Strittmatter in die Novelle einzuführen, aus meiner unbestechlichen Fragmentsammlung zu zitieren:

Gerd Strittmatter saß auf einem Felsvorsprung oberhalb des ehemaligen Schloßparkes, des künftigen Siedlungsgeländes, und blickte hinab in eine schwarze Ebene, die noch immer nichts preisgab. Es war eine sehr milde, aber mond- und daher lichtlose Mainacht, Gerd Strittmatter verglich immer wieder das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr mit dem östlichen Himmel, der eigentlich ebenfalls schon von Lichtspuren hätte erhellt sein sollen. Noch herrschte tiefe, ungebrochene Nacht. Seit bald zwanzig Minuten saß Gerd Strittmatter auf seinem Felsvorsprung, den er noch von seinem ersten Siedlungsmorgen her kannte, und stellte sich die Schloßruine vor, wie sie dort unten in der Dunkelheit auf ihren letzten Tagesanbruch wartete. Wenn er die Stelle, an der er die Schloßruine wußte, lange genug fixierte, dann begannen seine Erinnerung und seine Erwartung, ihm etwas vorzuspiegeln: Wie damals, als er zum ersten Mal hier gewartet hatte, sah er plötzlich schemenhaft die Ruinen aus der Finsternis tauchen und die schwarze Nacht grau färben, doch wenn er nach oben blickte, in den östlichen Himmel, der ihm direkt vor Augen stand, dann sah er, daß noch immer Nacht war, und die Überreste des Schlosses dort unten waren wieder geisterhaft unsichtbar. Einmal nahm er seine Taschenlampe zur Hand, die ihm vorhin den Weg durch den Park gebahnt hatte, und leuchtete nach unten, doch der schwache Lichtstrahl verlor sich, lange bevor er das Schloß erreichen konnte, nur der felsige Abgrund, der sich vor seinen Füßen auftat, wurde etwas deutlicher.

Bei Tag war die Schloßruine von so geheimnisvoller, düsterer Schönheit, daß die Faszination eigentlich offensichtlich hätte sein müssen, die sie auf die Kinder Menzings ausübte. Jeden Tag eroberten die Rudel der Kinder und Jugendlichen den Park und die Ruine aufs neue, gleich bei welchem Wetter. Nebeltage waren bei den Älteren besonders beliebt, und wenn Schnee lag, kamen

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sogar die Erwachsenen und bewunderten das romantische Bild von Einsamkeit und Zerstörung mitten in Menzing. Fünfzehn Jahre war es nun bald her, daß Gerd Strittmatter zuletzt an der Schloßruine gespielt hatte – wenn man das grimmige oder beklommene Streunen von Fünfzehnjährigen noch Spielen nennen konnte. Mit dem letzten Nachmittag an der Schloßruine endete für Gerd Strittmatter in der Rückschau seine Kindheit. Unauflösbar war seine ganze Kindheit mit den Umrissen der Schloßruine verwoben. Manches Jahr erschien ihm in der Erinnerung wie ein einziger ausgedehnter, zeitloser Nachmittag an der Schloßruine, ohne Anfang noch Ende, all die vielen hundert Nachmittage dort verschwammen ihm manchmal zu einem einzigen ewig langen Nachmittag, der seine ganze Kindheit umfaßte. Am Anfang, in den ersten Jahren nach dem Krieg, der das jahrhundertealte Schloß ruiniert hatte, hatten sich die Kinder noch zur Schloßruine stehlen müssen, da ihre Eltern diesen Ort unter den entsetzlichsten Drohungen verfluchten. Die Erwachsenen fürchteten angeblich die Gefahren, die in der zerbombten Ruine lauerten, aber sie fürchteten wohl ebenso die zerbombte Ruine an sich, deren Trümmer sie an den Krieg gemahnten. Hätte München in dieser Zeit nicht zentralere Sorgen gehabt, das Trümmerfeld wäre gewiß geräumt worden, um riesigen Mietskasernen Platz zu machen. Das waren die aufregendsten Jahre an der Schloßruine: ein verbotener, gefährlicher Ort, der alle Geheimnisse des noch unbegreiflichen Lebens zu bergen schien. Tatsächlich geschahen damals immer wieder schreckliche Unglücke: Jugendliche wurden bei ihren Erkundungen durch die finsteren Labyrinthe der Ruine, die nur von außen noch den Anschein eines Schlosses erweckte, von herabstürzenden Trümmern erschlagen; Kinder starben beim Spielen in den Bombenkratern des Schloßparkes durch die gewaltigen Explosionen der Blindgänger. Gerd Strittmatter erinnerte sich an diese Katastrophen wie an erschütternde, aber großartige Abenteuer. Er selbst verlor in diesen ersten Jahren seines erinnerbaren Lebens drei oder sogar vier seiner Freunde. Gemeinsam mit seinen vielen Verbündeten gelang es ihm ein ums andere Mal, die Jugendlichen, die sich heuchlerisch als Vollstrecker des Willens der Erwachsenen gerierten und den Kindern die Zugänge versperrten, zu überlisten und ins Innere des Schlosses vorzudringen, wo es aussah wie am Mittelpunkt der Erde. Ungeheure, chaotische Trümmerformationen bildeten atemberaubende Höhlen, in denen zerborstene Rohrleitungen wie Tropfsteine aus den

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beunruhigenden Decken wuchsen und eine rostfarbene Lauge absonderten, die in den Hohlräumen zwischen den Trümmern am Boden dickflüssige, teilweise mineralisierte Tümpel bildete, deren Krusten, wenn durch eine Felsspalte ein Lichtstrahl einfiel, in allen Regenbogenfarben schillerten. In einer dieser unnatürlichen Tropfsteinhöhlen ereignete sich das schwerste Unglück, an dem Gerd Strittmatter beteiligt war, als plötzlich, ohne jede Vorwarnung, einer der Stalaktiten aus der Decke brach und einen Teil dieser unechten, instabilen Decke mit sich riß. Die Felsbrocken begruben zwei von Gerd Strittmatters engsten Freuden. Ihre Überreste lagen noch heute in den Eingeweiden des Schlosses. Doch mit der Anzahl der Toten wuchs auch die Faszination der Ruine: Die Jugendlichen erzählten Schauergeschichten von zerschmetterten Skeletten zwischen den Trümmern und von unversehrten menschlichen Schädeln, an denen noch halbverweste Reste von Gesichtern hingen. Irgendwann entschloß sich die Stadtverwaltung, die Zugänge zur Schloßruine mit Beton zu versiegeln, aber auch danach fanden die Jugendlichen und die Unerschrockensten der Kinder noch geheime Einstiege in den Fels. Sechs Jahre nach Kriegsende rief das Schloß seine letzten Opfer zu sich: Eine Gruppe Jugendlicher versuchte, durch die verschiedenen übereinandergeschichteten Höhlensysteme das unter freiem Himmel aufgetürmte oberste Stockwerk zu erreichen, da sank das gesamte ruinöse Bauwerk, eher mit einem Seufzer als unter Getöse, in sich zusammen, und als sich die Staubwolke gelegt hatte, war von der Ruine, die zuvor immerhin noch dem Schatten eines Schlosses geglichen hatte, wahrhaftig nur noch ein Trümmerhaufen geblieben, aus dem allerdings sehr malerisch einige Abschnitte der Fassade aufragten und sich zu jenem romantischen Bild von Einsamkeit und Zerstörung fügten, das nun sogar die Erwachsenen, zumindest an Schneetagen, bewundern lernten. Der Krieg versank allmählich in den Untiefen der Erinnerung, ebenso die Opfer der Schloßruine, von denen die meisten bis heute, bis zu ihrem letzten Morgen, unter den Gesteinsmassen ruhten. Die Schloßruine wurde zu einem Ausflugsziel, im Laufe der Zeit sogar zu einer Touristenattraktion, und obwohl von dem Moment an, da Menzing das Schloß endgültig verloren hatte, immer wieder Stimmen laut wurden, die eine sinnvolle Nutzung des ehemaligen Schloßgeländes forderten, schaffte es der Chor der Kinder und ihrer Eltern und der ehemaligen Schloßkinder, die Leiche der ehedem so gefräßigen Schloßruine fast zwanzig Jahre lang vor ihrer Einäscherung zu bewahren. Gerd Strittmatter ging nach

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dem großen Einsturz, der acht Jugendlichen und der Schloßruine das Leben gekostet hatte, noch vier Jahre lang mit seinem bröckelnden Freundeskreis nachmittags zur Schloßruine, nun mit Erlaubnis der Eltern, und obwohl die Nachmittage nicht mehr von tödlichen Bedrohungen verklärt, hingegen immer öfter von Erwachsenen entweiht wurden, blieben auch diese vier Jahre unbedingt Teil seiner Kindheit. Er erinnerte sich an Nebeltage, an denen die geisterhafte Schloßruine eine Aura verströmte, als hätte sie ihre alte Gefährlichkeit wiedererlangt, an endlose Stunden in den letzten, jahrtausendealten Höhlen unter der Erde, die eine perfekte Landschaft für apokalyptische Kriegsspiele darstellten, und natürlich an jenen Nachmittag, an dem er, erst dreizehn Jahre alt, in einem verborgenen, düsteren Winkel einer solchen Höhle, aufgepeitscht von den Schreien der anderen, die sich ganz in der Nähe mit Maschinengewehren oder Laserpistolen gegenseitig niedermetzelten, zum ersten Mal in seinem Leben, im Stehen, ein Mädchen vögelte. Zwei Jahre später endete seine Kindheit. Die Schloßruine war nicht mehr bedrohlich, nicht mehr geheimnisvoll, nicht mehr faszinierend, sondern verbunden mit der Erinnerung an zerbrochene Lieben und zerbrechende Freundschaften und an eine scheinbar endlose, dennoch verlorene Kindheit, die er endlich und für immer und alle Zeit hinter sich lassen wollte.

Gerd Strittmatter hatte sich, um sich der Erinnerung an seine Menzinger Kindheit zu stellen, eine Zigarette nach der anderen angezündet, obwohl er sich eigentlich vorgenommen hatte, an diesem Morgen nicht zu rauchen, vielmehr ein allerletztes Mal die Luft des Schloßparkes zu atmen. Doch die Geschichte der Schloßruine, die bei Tagesanbruch nun unwiderruflich enden würde, beunruhigte ihn, und so vertrieb er mit dem Zigarettenrauch jenen sonderbaren, unerklärlichen Moorgeruch aus seinen Atemwegen, den niemand außer ihm roch und der ihn, stärker als alles andere, stärker sogar als der Anblick der Schloßruine, an seine Kindheit erinnerte. Noch immer saß er in Finsternis, der letzte Morgen der Schloßruine schien nicht anbrechen zu wollen, und von dort unten, vom Trümmerfeld aus, konnte man vor lauter Finsternis wahrscheinlich sogar die verschwindend geringe Glut seiner Zigarette sehen, auf die das Licht seiner Taschenlampe geschrumpft war. Niemals in den zurückliegenden fünfzehn Jahren hatte er sich in den Chor der Freunde der Schloßruine eingereiht, der immer so pathetisch von der Ruine als »Seele des Münchner Westens« sang. Insgeheim jedoch war er immer auf der Seite derer ge-

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standen, die sich einem Abriß des Schlosses und einer »sinnvollen« oder »vernünftigen« Nutzung des so lukrativen Geländes widersetzten. Die Gegner der Schloßruine, ob sie nun für einen Wiederaufbau des Schlosses, einen Englischen Garten, eine »Kulturinsel« oder eine Wohnsiedlung plädierten, hatten nie eine reelle Chance gehabt; bis sie vor einigen Jahren zur allgemeinen öffentlichen Verblüffung ihre Strategie änderten und mit der Idee der Würmsiedlung ihre eigene Läuterung präsentierten. Die Würmsiedlung, so argumentierten sie nun, würde den mythischen Ort, den die Schloßruine für die Kinder Menzings bedeutete, nicht zerstören, sondern ihm nur einen neuen Grundriß geben, ihn gleichsam – zeitgemäß – wiederaufbauen. Diese Worte brachen die Widerstände in Bezirksausschuß und Stadtrat und lähmten die Freunde der Ruine. Gerd Strittmatter allerdings glaubte nicht an solcherlei Seelenwanderungen. Wie hätte er ahnen können, daß man gerade ihn auserwählen würde, den Totengräber der Schloßruine zu spielen? Um sein Gewissen zu beruhigen und sich endgültig von seiner Kindheit zu verabschieden, war er heute nacht, zwei Stunden vor Sonnenaufgang, von seiner Wohnung in Nymphenburg zu Fuß zum ehemaligen Schloßpark, zum künftigen Siedlungsgelände gehetzt, dem Abriß der Ruine beizuwohnen, der unmittelbar nach Tagesanbruch beginnen sollte. Er kannte seinen Platz bereits: Dort oben, auf dem steilen, bewaldeten Hügel, künstlich angelegt vor Hunderten von Jahren, als dem Schloß seine letztgültige Form gegeben wurde, war er schon im vergangenen Jahr an einem sehr frühen Morgen auf jenem Felsvorsprung gesessen, der fast den gesamten Schloßpark beherrschte, und hatte auf den Tagesanbruch gewartet, der damals die ersten Landvermesser mit sich brachte, eine unscheinbare Vorhut, einen scheinbar harmlosen Spähtrupp der Invasoren, deren Söldnerheer heute, in wenigen Minuten, mit brachialer Gewalt die Geister der Schloßruine aus ihrem Park vertreiben würde.

Ein unterschwelliges Unbehagen, eine Beklemmung. Gerd Strittmatter führte das ursprungslose Gefühl zunächst auf seine Müdigkeit zurück und dachte, er sei für Augenblicke in den ersten Kreis des Schlafes geraten. Plötzlich jedoch hörte er Vogelgezwitscher, und bevor er seine flüchtenden Gedanken fassen konnte, standen auch schon die Umrisse der Schloßruine geisterhaft vor seinen Augen. Er blickte nach oben, um sich zu vergewissern, daß er nicht abermals halluzinierte, doch diesmal hatte sich auch der schwarze Nachthimmel augenscheinlich grau gefärbt. Schemenhaft tauchten die Ruinen aus der sich allmählich

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verdünnenden Finsternis ans Licht. In dem schattenreichen Morgengrauen, mit dem sich das schwarze Nichts der Nacht erfüllte, erschienen die Überreste des Schlosses wie ein sich nach und nach materialisierender Geist. Gerd Strittmatter erhob sich, streckte sich, bewegte, ohne sich von der Stelle zu rühren, seine steifen und schmerzenden Beine und blickte dann, die Hände in den Hüften, von seinem erhabenen Felsvorsprung auf die Schloßruine hinab, die schattenhaft zu seinen Füßen lag. Dahinter erstreckte sich die weite, fahle Ebene des inselförmigen Schloßparkes, begrenzt von den noch nächtlich dunklen Würmauen, über denen sich der Himmel von fern her zu lichten begann. Hier, in der Tiefe des Siedlungsgebietes, schien die nächste Stadt unendlich weit entfernt zu sein. Ein heller, wolkenloser Morgen brach an. Gerd Strittmatter fröstelte leicht, nachdem er die Nacht als ungewöhnlich mild empfunden hatte. Es roch nach Moor, nach feuchter Erde, nach Wald, und Gerd Strittmatter, obwohl er diesen natürlichen Atem liebte, zündete sich nach einer längeren Pause wieder eine Zigarette an. Die faszinierende, geheimnisvolle Schönheit des Trümmerfeldes dort unten rührte nicht allein von den stehengebliebenen Fassadenresten her, die in ihrem Zusammenklang die Gestalt eines Schlosses in Erinnerung riefen, auch nicht so sehr von den kargen Sträuchern und Bäumen, die sich auf den Trümmern zwischen diesen Fassadenresten emporkrümmten und in ihrer mühsamen Lebendigkeit das Bild der Zerstörung vervollkommneten, sondern vor allem von dem Wissen des Betrachters um das unsichtbare Innenleben der Ruine. Im ehemaligen Kellergeschoß hatte sich ein letztes, phantastisches Höhlensystem erhalten, das Generationen von Kindern den Abstieg in die düstersten Abgründe Menzings ermöglicht hatte, und in dem steinernen Meer darüber schwammen die Gebeine der Ungezählten und Vergessenen, die dem Zorn des niedergebombten Schlosses in den ersten Jahren nach dem letzten Krieg zum Opfer gefallen waren. Gerd Strittmatter erinnerte sich sehr lebendig an die Gesichter seiner drei Freunde, die es sich gewiß gewünscht hätten, für immer in den eingestürzten Höhlen der Schloßruine begraben zu bleiben. Es war ihm unbegreiflich, wie die Stadt die Bedeutung dieses Ortes verkennen konnte. Er selbst jedoch war ein Teil dieser Stadt, und er war, ungeachtet seiner Gewissensqualen, nicht fähig und nicht willens, sich schon im Alter von dreißig Jahren in die selbstgewählte Verbannung zu begeben. Gerd Strittmatter löschte die erste Zigarette des Tages, wie alle Zigaretten, die er noch während der Nacht geraucht hatte, auf dem von

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Aschespuren gezeichneten Fels und schnippte die filterlose Kippe den Abhang hinab, an dessen Fuß sie ins dichte Buschwerk einging. Dann nahm er wieder neben seiner Taschenlampe Platz, neben der er eine halbe Ewigkeit lang auf den letzten Tagesanbruch der Schloßruine gewartet hatte, und fingerte eine weitere Zigarette aus der Packung, die er erst rauchen wollte, wenn der Abriß der Ruine unmittelbar bevorstand. Von seinem Felsvorsprung aus war der Weg, auf dem das Söldnerheer der Invasoren, das auch sein Heer war, in den Schloßpark eindringen würde, nicht einzusehen, und so konzentrierte er sich auf die natürliche Geräuschkulisse dieses Siedlungsmorgens, um den Motorenlärm der Fahrzeuge rechtzeitig herausfiltern zu können. Während Gerd Strittmatter, zum ersten Mal seit dem Rückzug der Nacht, den Zeigerstand seiner Armbanduhr zu entziffern versuchte, erschienen in der Blickrichtung seines Felsvorsprungs, über den Baumkronen der Würmauen, am gelichteten östlichen Himmel, die ersten blassen Feuermale einer schwachen und späten Morgenröte.

(1992)

Gerd Strittmatter versöhnte sich mit der Würmsiedlung in dem Augenblick, da das Raumschiff landete. Es landete in der Abenddämmerung des 4.2.1974 – und so ist auch dies ein Datum, das niemand, der jemals am Siedlungsritus teilhatte, jemals vergessen wird.

Um 9.05 Uhr klingelte an diesem Morgen das Telefon im Architekturbüro Kraker-Strittmatter in München-Bogenhausen – und 30 Sekunden später wurde Marta Traube zu Gerd Strittmatter durchgestellt.

»Marta! Wir dachten alle, du wärst tot!« hatte Gerd Strittmatter damals im Spätsommer 1972 in die Sprechmuschel gerufen, als sie zum allerersten Mal mit ihm verbunden worden war. Heute: »Marta, ich hab’ gedacht, heute würde ich von niemandem irgendwas hören.«
»Du mußt uns helfen, Gerd!«
Damals überredete sie ihn zu einem konspirativen Treffen am Eisbach. Heute überredete sie ihn zu einem überstürzten Umzug in den Rohbau des Würmbungalows.
»Wenn Brenninger mitbekommt, daß ich mich mit dir treffe, bin ich der nächste, den er durch halb Mitteleuropa jagt.« »Marta: München versinkt im Schnee!«

Damals steuerte er wenige Stunden später Marta Brenninger auf dem Beifahrersitz und Georg Traube (der sich am Eisbach unterhalb des Kunsthauses hinter einer Trauerweide versteckt hatte) auf dem Rücksitz

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gen Menzinger Schloßpark. Heute schlitterte er wenige Stunden später mit Georg Traube auf dem Beifahrersitz und Marta Traube (die im 7. Monat schwanger war) im Laderaum gen Würmsiedlung.

Damals unterschrieben die Flüchtigen, vogelfrei und wildentschlossen, nach Sonnenuntergang in der Baracke der Siedlungsgesellschaft einen Vorvertrag für eines der Filetstücke des zukünftigen Siedlungsgebietes, während Gerd Strittmatter beklommen die fließenden Grenzen von Holzboden zu Schloßparkschmutz zu fixieren suchte. Heute saß das zukünftige Vorsitzendenehepaar in der Dämmerung auf dem rohen Estrich des Würmbungalows hinter Martas bauchgroßem Eintopf und wärmte sich notdürftig am erbärmlichen Kerzen- und Feldkocherfeuer, während Gerd Strittmatter durch die staatstragende Fensterfront die Südgrenze fixierte und seinen Augen nicht traute.

Dort unten, am anderen Flußufer, in den hochalpinen Würmauen, schienen unzählige schemenhafte Menzinger zwischen den tiefschneeverzerrten Baumstämmen zu erscheinen, um ihn hier oben zu fixieren. Im Zwielicht der Wintererinnerungen waberten sie wie Außerirdische.

»Hier ist offenbar ein Ufo gelandet.« Gerd Strittmatter konnte vor Kälte kaum die Lippen bewegen.

Bevor Georg und Marta fragen konnten, schlug jemand gewaltig gegen den klingellosen Eingang.

Georg ließ seine Frau auf dem Estrich sitzen, die weiter in ihrem Eintopf rührte und durch Gerd Strittmatter hindurchsah. Als dieser sich wieder umdrehte, erkannte er, wenige Zentimeter von seinem eigenen entfernt, auf der anderen Seite der Glasscheibe, das Gesicht eines zwielichtigen Menzingers. Er hätte fast aufgeschrieen, ehe er in dem Gesicht seine Freundin Dauthendey erkannte.

Dauthendey beobachtete durch die Fensterfront, wie ein fremder Mann die Ehepaare Stein und Finck aus den Tiefen der Kommandobrücke ins Dämmerlicht führte. Karl und Edmund klopften Gerd auf den Rücken, Anita und Sybille fielen ihm um den Bauch. Ihr Architekt war ein Titan, überragte die ihn flankierenden Männer wie ein Baumstamm aus Kiefernmuskeln und schwarzem Moos. Sein Kopf hatte die unmittelbare Wirkung eines Felsbrockens. Eine umwerfende Erscheinung.

»Es hat wieder angefangen zu schneien«, sagte Dauthendey, als der fremde Mann ihr doch noch die Verandatür öffnete. »Sie sind gerade noch rechtzeitig mit ihrem Raumschiff hier gelandet.«

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Als sie vor die fremde rührende Frau trat, sprach Dauthendey in das Wasser, das inzwischen vor Martas Gesicht aufstieg: »Gibt’s zur Vorspeise Bouillabaisse?« –

So begann das allererste Siedlungsritual. Viele Jahre später wurde erzählt, daß der Freundeskreis die ganze Nacht lang auf dem rohen Estrich saß: die gläubigen Geschöpfe mit eingeschlafenen Beinen im Halbkreis um den Eintopf, Marta mit gekreuzten Beinen hinter ihrem dampfenden Bauch, aus dem sie Eintopf in Kaffeetassen und Geschichten aus ihrem alten verteufelten Leben schöpfte, die – anders als die baumstumpfen Kerzen beidseits des unsichtbaren Embryos und der undichte Rohbau – vor dem Pinzgauer Blizzard schützten, in dem das Raumschiff kenterte. Es wurde erzählt, daß Marta des Nachts zum ersten Mal die Silvestergeschichte erzählte, inmitten eines unglaubwürdigen Echos der Silvestergeschichte das Silvesterritual gebärend, nach dessen ursprünglicher Reinheit sich Karl Stein bis ans Ende aller würmischen Geschichte zurücksehnen sollte, obwohl es schon auf diesem Gründungssilvester, das selbst schon bald in die Silvestergeschichte eingehen sollte, mit Toni Brenningers tausendundein Vor- und Nachsilvestergeschichten verunreinigt wurde. (Brenninger war es wohl auch, der in dieser Gründungssilvesternacht das Pinzgau über Würmien ausstieß, das damals wohl auch noch Menzing hieß, jedenfalls erschraken Georg und Marta vor jeder Menzinger Schneewehe wie vor einem Fluch. »Brenninger war ein Wahnsinniger!« höre ich. »Er wollte zwar nicht jeden Abend eine neue Ehefrau, sondern nur eine neue Geliebte, aber wer weiß, wie er heute herrscht …« Aber kann dieser unbekannte Nebenarm der Ohrwürm wirklich aus Marta entspringen? Gerd Strittmatter war literarisch gebildet … Übrigens: War es wirklich Klaus Hornung, der wenige Monate später auf dem mythischen Deichfest die Frage erfunden hat [Karl Stein seufzte], was Bouillabaisse sei? Einige Siedler hielten bis zuletzt daran fest, daß es nicht Klaus Hornung auf dem Deichfest, sondern Horst Kehrum auf der ersten Sonnwendfeier gewesen sei; ich halte zu diesen Dissidenten. Die Frage wurde zu einem geflügelten würmischen Wort. Erst nach dem Untergang der Würmsiedlung habe ich gelernt, daß »Was ist Bouillabaisse?« außerhalb Würmiens nicht dasselbe bedeutete wie innerhalb [wo es sogar zweierlei bedeuten konnte, nämlich ebenso »Du bist doch bescheuert!« wie »Was für ein Unsinn!«], vielmehr gar nichts.) Erst als es graute, so wurde erzählt, erst als er das Niemandsland ermessen konnte, das Georg und Marta in ihrem Raumschiff

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durchmessen hatten, flüchtete der Freundeskreis durch den beispiellosen Bungalow, dem seine natürliche Vorsilbe wohl erst nächstens zugesprochen und in dessen Perspektiven ein metaphysisches Chaos hauste, das erst gestern seßhaft geworden war. In der Büroflucht, durch dessen offenliegende Rohre Brenninger die Eiszeit leitete, entrollten die stolzen Schöpfer die Pläne ihres Lebenswerks; auf der Wendeltreppe, die den Dielenkosmos ins Souterrain bestürzte, ahnten die staunenden Jünger, ohne eine Sprache dafür antizipieren zu können, wo man schon damals das Bewußtsein des Bordcomputers hätte verorten können; und auf der Dachterrasse des Würmbungalows, deren Genealogie von den mißleiteten Schneemassen überdeckt wurde, erstarrten Traubes, Steins und Fincks schließlich zu einer sechsköpfigen Statue, die das ganze Siedlungsgebiet beherrschte und mit einer bereitwillig willkommen heißenden, gelassen aufnehmenden Gebärde hinab auf die unbewohnten Bauschemen wies, die daran scheiterten, Erde, Luft und Empyreum zu zentrifugieren. So gründete sich der Freundeskreis. »Die Siedlung unter Pulverschnee«, ging die Erzählung, »das war das Schönste, was wir je gesehen hatten!« Erzählte sie die Wahrheit?

*

»Die Berge unter Pulverschnee, das ist das Schönste, was ich je gesehen habe!« erzählte Marta Traube – und so hatte Marta Traube erzählend das allererste Siedlungsritual und fünf oder sechs weitere Silvesterrituale begonnen, bevor ich zum allerersten Mal die Silvestergeschichte erzählt bekam. »Diese Ruhe! Diese Einsamkeit!«

»Brenninger war ein Wahnsinniger!« – so begann Marta Traube während meiner fünfzehn oder sechzehn Jahre als initiierter Siedler den zweiten Teil der Silvestergeschichte, den sie auch auf allen anderen Festen, den »beiden« Deichfesten etwa, den Einzugspartys des Jahres 74 oder den Sonnwendfeiern, erzählte – amputiert, sofern Karl Stein verhindern konnte, daß die zügellose Siedlerschaft um Hornung das ganze heilige Silvesterritual entweihte. »Er hat uns ja buchstäblich vertrieben aus unserer alten Wohnung! Nur deshalb sind wir ja hier in einen Rohbau eingezogen! Ich hochschwanger!«
»Marta«, würde ich sie heute fragen, wenn ich sie noch fragen könnte, ich habe sie nie gefragt, »Marta, erzählst du mir, was mit seinem Auge geschah, nachdem Peter Schlenz es euch auf seiner Handfläche prä-

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sentiert hatte?« (Ich frage sie jetzt einfach mal nach dem Augenblick, der meine eigene Silvestererzählung unterbrochen hat.)
»Das Auge leuchtete im Mondlicht wie der rote Planet!« würde Marta mir erzählen. »Es stürzte, nachdem vor Entsetzen zunächst Georg und ich einige Meter die Hangnacht hinabgestürzt waren, mit aller Kraft zurück in seine Höhle, und Peter Schlenz, nachdem wir ihn mit letzter Kraft die Eschatologie der österreichischen Zentralalpen hinabgestützt hatten, wurde noch am ersten Januarvormittag vom überforderten Zeller Krankenhaus nach Salzburg ausgelagert, während die Brenninger-Bande komatöste. Georg und ich waren seit dem Gründungsaugenblick der Würmsiedlung nüchtern, und mehrere Tage lang brauchten wir keinen Schlaf. Die Bande, der ich während ihres mittäglichen Katerfrühstücks zum ersten Mal die Silvestergeschichte erzählte, weigerte sich das ganze vergiftete Neujahr, den Urlaub abzubrechen, aufgeschwungen vom Hotelwirt, der sie immer wieder hinaus auf die Märchenpiste staubte, durch die sich, noch schmaler, länger und steiler als sonst, eine vierspurige Völkerwanderung hinauf und hinab zur Talstation und zur höchsten und sonnigsten Schneehöhe Bahn brach, in der diese Bergwelt je gegipfelt hatte, ein Kettenlaufwerk aus Autos und Menschen, skiförmigen Dächern und Schultern, Kreuzweg wie Buchstabensuppe, war es das Sein, das sich wälzte in Präsens und Futur exakt? Bergwärts streicht das Schiff, Bergwerk spricht die Raupe, hinauf, hinab … überflügelt vom befreundeten Hotelwirt, steigerte sie sich in ein unwiederbringliches Winterdelirium, in das sie am nächsten Morgen verfallen wollte. Erst nachdem Georg und ich uns abends an einem Glühweinstand in einem höhlenengen Altstadtgäßchen verschworen hatten, am nächsten Morgen alleine, zu zweit in Brenningers Wagen, über Salzburg nach München zurückzufahren, lenkte Brenninger an besagtem nächsten Morgen nach dem letzten Schluck Kaffee ein: ›So, jetzt fahr’ ma heim!‹ Und dreißig Sekunden später folgte ihm seine Bande, die schon in Skischuhen zum Frühstück erschienen war. Wir fuhren zu dritt in Brenningers Wagen über Salzburg nach München, die Strecke zwischen Zell am See und Lofer durch die Ausläufer des Steinernen Meeres war noch zauberhafter als sonst, schmale, gewundene Gebirgspässe, rechts neben der Straße verklärten gefrorene Wasserfälle die Steilwände, links beugten sich an den Rändern der Schluchten die Nadelbäume unter untragbaren Schneelasten, und immer wieder zerstäubte eine durch die Sonne fallende Schneewolke auf der Glasscheibe vor unseren Augen.«

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»Wie war die Fahrt«, würde ich Marta fragen, »zu dritt in Brenningers Wagen, neben ihm und vor Georg?«
»Die Berge unter Pulverschnee, das ist das Schönste, was ich je gesehen habe!« erzählte Marta. »Diese Ruhe! Diese Einsamkeit! Die steile Straße hinauf zur Talstation an einem sonnigen Tiefwintermorgen … Zu dritt machten wir in Salzburg Intensivstation, wo Peter Schlenz einäugig, aber außer Lebensgefahr und in dem fremden Bewußtsein lag, daß er sich im Vollrausch sein rechtes Auge ausgerissen hatte. Zum zweiten Mal erzählte ich die Silvestergeschichte, an die Peter sich nicht mehr erinnern konnte. ›Pistenpirat!‹ taufte ihn Brenninger, makaber wie immer, und als Peter erschöpft sein linkes Auge schloß, sah ich auch ihn zum letzten Mal.«
»Wer war eigentlich Peter Schlenz?«
»Das weiß niemand …«
»Peter Schlenz arbeitete, wie Georg damals auch noch, als Immobilienmakler im entartenden Architekturbüro Kraker, das aber erst im Laufe des Jahres 1972 jenen Kompagnon integrieren sollte, den wir alle viel zu gut kennen.«
»Umwerfend gut!«
»Daß die Würmsiedlung über Konstantin Kraker den Korrupten mit der mythischen Brenninger-Bande verwandt ist, bildet doch sicher den Glutkern der Siedlung, oder? Marta«, würde ich sie heute fragen, wenn ich sie noch fragen könnte, »ich habe mich nie getraut, Gerd Strittmatter zu fragen: Kannte unser felsiger Architekt Toni Brenninger?«
»Ich sah Gerd Strittmatter zum ersten Mal«, würde Marta mir erzählen, »als Georg ihm im März zweiundsiebzig erklärte, warum er bei Kraker kündigen und ihn und Dauthendey bitten mußte, uns heimlich eine Wohnung zu beschaffen, schon damals sprach man, wenn man mit Gerd Strittmatter sprach, zugleich auch mit Dauthendey, und damals auch erzählte Gerd Strittmatter uns, während seine namen- und alterslose Geliebte uns durch seine mondän renovierte Altbauwohnung am Nymphenburger Schloßrondell kutschierte, zum ersten Mal vom Würmsiedlungsprojekt, das von Krakers Freundschaften auf allen Ebenen der Landeshauptstadt so exklusiv profitiert hatte, daß Kraker sich entgrenzen mußte, um seinen Reichtum noch tragen zu können, der sich nun anschickte, ins Untragbare zu wachsen.«
»Das ist alles gelogen!«
»Warum«, würde ich Marta fragen, (sicher wissend, daß ich eines Tages doch noch so mutig werde, Gerd Strittmatter direkt auf

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Toni Brenninger anzusprechen), »warum wußte Georg eigentlich nicht selbst vom Siedlungsprojekt?«, werde jedoch ausgeblendet von Karl Stein, der sich niemals genug an Brenningers Chauvinisten-Kunststückchen delektieren konnte: »Erzähl doch Brenningers Versöhnungsreise auf die Bahamas!« höre ich Karl Stein befehlen, und was Marta für mich erzählen würde: »Georg stand seit dem ersten Januar auf Krakers Abschußliste …« geht im klassischen Silvesterritual unter:
»Brenninger war ein Wahnsinniger! Am liebsten wäre ich ja gleich am zweiten Januar bei ihm ausgezogen, aber plötzlich hatte er eine Versöhnungsreise auf die Bahamas gebucht, und warum hätte ich darauf verzichten sollen?«
»Es ist und bleibt die herrlichste Episode!«
»Ich sehe sie noch vor mir, wie sie im Flugzeug zwei Reihen hinter uns sitzt und mit Brenninger vor der Toilette Worte wechselt, aber ich dachte natürlich, er würde wieder mal mit einer Blondine anbandeln, was dann kam, war selbst nach allem, was gewesen war, unvorstellbar.«
»Es ist und bleibt die herrlichste Episode!«
»Hör auf!« Das war wohl die Stimme von Anita Stein.
»Gibt es auf den Bahamas Rosaflamingos? Ich kann mich nicht an sie erinnern, aber woher sonst kommt das Gespräch des verdampfenden Salzes mit der heiseren Sonne? Der Sand war weiß, die Palmwedel grün, der Ozean aquamarin, niemand von euch kennt einen solchen Strand, außer vielleicht Dauthendey, die zum internationalen Jetset gehört«, Gerd Strittmatter winkt ab, »ich sah die steile Straße hinauf zur Talstation an einem sonnigen Tiefwintermorgen, und das Perpetuum mobile mit den aufgebogenen Spitzen produzierte die Geräuschkulisse einer Flamingokolonie im seichten Lagunenwasser: Immer, wenn ich vor der Tür unseres Zeller Hotels die Völkerwanderung beobachte, wenn ich von der Terrasse der burgenländischen Villa den Neusiedler See oder von der Dachterrasse des Würmbungalows das Siedlungsgebiet überblicke, immer wenn ich … immer dann belausche ich dieses Gespräch.

Schon am dritten Tag rief ich Brigitte an:

›Ich habe Brenninger mit einem baumlangen österreichischen Fotomodell erwischt, das er im Flugzeug kennengelernt hat.‹
›Sie sieht aus wie du, nur in blond.‹
›Woher willst du das wissen?‹

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›Sogar Georg Traube weiß schon, daß Brenninger zwei Martas mit auf die Bahamas genommen hat. Er nennt sie immer seine Arlberger Varietät.‹

Am nächsten Tag flog ich alleine zurück, packte mein bisheriges Leben in zwei Reisetaschen und klingelte unangemeldet an der Wohnungstür von Georg Traube, mit dem ich seit unserer Zeller Glühweinverschwörung kein Wort gewechselt hatte.

Ein paar Wochen lang hausten wir gemeinsam in seiner winzigen Zweizimmerwohnung in Giesing, Georg arbeitete unverändert, ich verbarg mich ganztags vor Brenningers Häschern, nicht einmal Brigitte rief ich an. Im März weihten wir dann Gerd Strittmatter ein, seit drei Jahren jüngster Architekt bei Kraker und brenningerresistent. Wir bräuchten eine sichere Wohnung. Bevor Dauthendey uns helfen konnte, rief Brigitte an:

›Ihr seid aufgeflogen! Brenninger ist mit seiner Schrotflinte‹, (oder war es seine Hakenkreuz-Armeepistole?), ›auf dem Weg zu euch!‹

Wir packten eine Reisetasche und flohen in meinem Karmann-Cabrio gen Süden. Eigentlich wollten wir über die Hohen Tauern an die Adria, doch von irgendwoher zog es uns ans Ende der Welt: in den Bayerischen Wald und an der tschechischen Grenze entlang bis ins Burgendland, wo wir am Neusiedler See, im allerletzten Winkel, eine Villa fanden, deren Hochplateau und deren junge Eigentümer alles beherrschten.

Unbestimmte Zeiten saßen wir über dem See, was die beiden Burgenländer ihre ›Terrasse‹ nannten, tranken Heurigen und Barack Pálinka, sie war schwanger, ich belauschte Salz und Sonne und übersetzte die Gespräche in den duftenden Untergang des Riesengebirges. Die Stimme bleibt, das Gebein soll sich in Stein verwandelt haben. Fraglos vor dem Anstehenden. 

Dem burgenländischen Hochplateau entsprang der Würmbungalow

das anstehende einflußreich

Im Spätsommer rief ich aus einer Telefonzelle in der Münchner Innenstadt beim Architekturbüro an und ließ mich zum neuen Kompagnon durchstellen.«
»Ich weiß mehr als alle anderen«, spricht es mir von oben herab. »Dauthendey hat Gerd Strittmatter bei Kraker eingekauft. Und auch die ›sichere Wohnung‹ von Georg und Marta hat Dauthendey finanziert. Sie gehört wirklich zum internationalen Jetset.«
»›Marta! Wir dachten alle, du wärst tot!‹

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›Du mußt uns helfen, Gerd!‹
›Wenn Brenninger mitbekommt, daß ich mich mit dir treffe, bin ich der nächste, den er durch halb Mitteleuropa jagt.‹

Kraker fürchtend, versteckte Georg sich hinter der Trauerweide am Eisbach, wo sein neuer junger Chef ihm bestätigte, daß er arbeitslos war. Trotzdem hatte Gerd Strittmatter ein vorübergehendes Appartement für uns, in dem wir uns verkriechen konnten, bis, wie er sagte, unsere Zukunftspläne und die ersten Mietswohnungen in der Würmsiedlung bezugsfertig seien. Wir ließen meinen aufsehenerregenden Karmann hinter dem Kunsthaus stehen und uns umgehend nach Menzing bringen.«
»In dieser Abgeschiedenheit hatte ich mir eine noch abgeschiedenere Zufluchtsstätte einrichten lassen«, deklamierte eines Siedlungsnachts Maximilian Eisenreich, als Marta vor den immer schamloseren Freßgeräuschen des Sonnwendfeuers verstummte, »ein Inselchen aus Marmor, inmitten eines von Säulengängen umgebenen künstlichen Weihers, einen verborgenen Raum, der durch eine Drehbrücke, die ich mühelos mit einer Hand bedienen kann, mit dem Ufer verbunden oder vielmehr von ihm getrennt ist.«
»Es spricht!« sprach Klaus Hornung ins Schweigen der ekelstarren Siedler, die in hemmungsloses Gelächter ausbrachen. Es war der größte Erfolg in Klaus Hornungs Siedlerkarriere.
»Welche Rolle hat Gerd denn nun wirklich beim Kauf des Würmgrundstücks gespielt?« fragte Karl Stein, der nun jede Zurückhaltung fahrenließ. »Heute kannst du doch die Wahrheit erzählen. Von uns erfährt er es bestimmt nicht.«
Abermals beugte sich Klaus Hornung zu mir herunter: »Glaube nicht, was jetzt kommt! Ich weiß mehr als alle anderen. Dauthendey hat damals bei der Bank für Georg und Marta gebürgt.«
Ich erinnere mich genau, daß er »Georg und Marta« sagte, und rieche seinen gärenden Atem. Wir hockten auf Bierbänken halbrund ums gierige Sonnwendfeuer, Marta mittig, und jenseits der verzehrenden Zungen loderten die dazugehören wollten. Es muß die Sonnwendfeier des Jahres 1986 gewesen sein, denn ich sehnte mich schmerzlich danach, neben Maximilian Eisenreich zu sitzen, den ich in diesem Sommer 1986 schmerzlich liebte.
»Gerd Strittmatter ist ja in Menzing geboren«, erzählte Marta. »Und zwar vier Jahre nach der Zwangseingemeindung. Und er ist

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geprägt von den Geschichten seines Vaters, der im Menzinger Gemeinderat an vorderster Front gegen die Nazis gekämpft hat.«
»Irgendwann wird noch erzählt werden, daß der alte Strittmatter am Ende in Dachau gelandet ist.« Ich verschweige diskret den Namen dieser Stimme (weiß ihn, ehrlich gesagt, auch gar nicht mehr sicher).
»Als er uns an diesem Spätsommertag des Jahres zweiundsiebzig souverän durch Menzing lenkte, las er aus jedem Garagentor und jedem verschnörkelten Gartentürchen eine Geschichte, während Georg und ich beklommen schwiegen: Der Mann, der so stolz und begeistert von Menzing sprach, widersprach Menzing unausgesprochen.«

»Wie eine Spinne saß das Schulzentrum im Straßennetz Menzings«, raunt beschwörend eines meiner kürzesten Fragmente (aus dem Jahr 1990). »Im frühen Mittelalter gegründet (›fast noch am Ausgang der Antike‹, pflegte Klaus Hornung zu fabulieren, wenn er in den Gründerjahren die Siedler gegen die Landeshauptstadt mobilisieren wollte), war Menzing bis zu seiner zwangsweisen Eingemeindung nach dem weitaus jüngeren München im Jahr 1938 ein ländlich-bäuerlich geprägtes und von bildungsbürgerlicher Sehnsucht überformtes eigenständiges Dorf und wuchs erst in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, durch Wirtschaftswunder und Stadtflucht, zu jenem mittelbürgerlichen (Gerd Strittmatter [wider]sprach: ›schrumpfbürgerlichen‹) Wohnviertel heran, dessen Straßen sich wie Spinnfäden auf eine schwarze und gefräßige Mitte bezogen. Menzing war ein Labyrinth aus kleinen und mittleren, verkehrsberuhigten und von alten Bäumen beschatteten Straßen, vor deren linder Öffentlichkeit sich die Ein- und Mehrfamilienhäuser hinter Zäunen und Hecken verbargen. Einige wenige größere, laute und allgemein verabscheute Verkehrsadern hielten die Verbindung zur Außenwelt.«

»Soweit habt ihr recht, daß die Stimmung nicht erst wechselte, als wir in der Baracke der Siedlungsgesellschaft zwischen den Rohruinen der öffentlichen Gebäude unser Interesse an den Filetstücken beurkundeten; bereits beim Grenzübertritt schwieg Gerd Strittmatter beklommen, während Georg und ich stolz und begeistert waldeten. Damals gab es ja, wie ihr wißt, noch keine östlichen Zufahrten von Untermenzing über die Würm, wir drangen vom Obermenzinger Westen aus durch die dichten Grenzwälder über den Höllgraben ein, und als sich die avocadogrüne Ebene aus dem Tannicht schälte, war Menzing von Georg und mir so weit entfernt wie die Bahamas von der Sonnalm. Daß wir uns nicht für die Mietswoh-

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nungen interessierten, überraschte mich selbst, und erst als Georg sich glühend wie ein Denkmal aus dem Hochplateau schraubte, das sich unter unseren Füßen in den Würmbungalow transformierte, wußte ich, daß es uns ernst war.«

»Aus Georgs Unterschrift unter den Vorvertrag«, so erzählte Marta bei jedem Siedlungsritual, »begann die schönste Zeit unseres Lebens zu sprechen: Wir waren noch auf der Flucht, schon auf mehrere Generationen hinaus verschuldet, täglich verrührte der Betonmischer auf unserer Baustelle eine Zukunft, und wir lebten in einem nach allen Räumen und Zeiten hin offenen und unbegrenzten Niemandsland, das sprach und roch wie der Seewinkel und wie die steile Straße hinauf zur Talstation an einem sonnigen Tiefwintermorgen …«

Anders als früher habe ich heute die Autorität, jedes Gespräch, sogar ein von Karl Stein befohlenes Siedlungsritual, jederzeit und allerorts zu unterbrechen. Hier möchte Gerd Strittmatter gegen Martas Sprache Einspruch erheben, aber da ich den Architekten des Niemandslandes erst in vielen Jahren hören will, klicke ich den Leser jetzt in den Sommer des Jahres 1973: Marta Brenninger ist schwanger, hat fristwidrig die Scheidung von Anton Brenninger begehrt und steht unter tempelblauem Himmel im Mangelgerippe des Würmbungalows, als Gerd Strittmatter die Auffahrt heraufläuft und kolportiert, daß Brenninger versucht habe, sich umzubringen.

»Das war kein Selbstmordversuch, das wißt ihr inzwischen alle. Er hat seine Bande eingeladen, kurz vorher hat er ein paar Schlaftabletten geschluckt, und dann hat er sich mit dem leeren Tablettenröhrchen vor die offene Eingangstür auf den Dielenboden gelegt. Sein einziges Risiko war, daß vielleicht die Bande zu spät kommt.

›Das war kein Selbstmordversuch‹, hab’ ich gleich zu Gerd Strittmatter gesagt.

›Das war kein Selbstmordversuch‹, hab’ ich dann auch zu der Psychiaterin gesagt, die mich schuldig sprach und ultimativ aufforderte, zu ihm zurückzukehren: ›Wenn Sie sich nicht wie eine anständige Ehefrau benehmen, bleibt Ihr Mann suizidgefährdet und für lange Zeit in der geschlossenen Psychiatrie!‹ ›Das war kein Selbstmordversuch. Und er wird wunderbar ohne mich leben können. Er will mir nur ein schlechtes Gewissen machen. Sagen Sie ihm einfach, daß Sie ihn hierbehalten müssen, und Sie werden den schnellsten Heilungserfolg Ihrer Karriere erzielen.‹

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Zwei Tage später war Brenninger wieder zu Hause und bereit, seinerseits die Scheidung zu begehren, sofern ich meine alleinige Schuld gestehen und die vergangenen Jahre völlig neu erzählen würde. Ich wurde schuldig geschieden, lebte aber dank Strittmatters und Dauthendeys Anwälten weiterhin im Untergrund mit dem mitschuldigen Georg Traube, den ich am einunddreißigsten Januar vierundsiebzig heiratete, bezeugt von Strittmatter und Dauthendey, die im Niemandsland die einzigen Gäste waren.«
»Die Bonner Herrschaften haben das ›Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts‹ mehrere Jahre lang beraten!« sagte Adele Eisenreich. »Sonst hätten Sie vielleicht schon 1973 nach dem Zerrüttungsprinzip geschieden werden können. Sogar die Nazis hatten 1938 schon einmal das Zerrüttungsprinzip eingeführt!«
»Damals war dem Würmbungalow, Ende dieses Jahres neunzehnhundertdreiundsiebzig, rechtzeitig vor dem sich neigenden Münchner Weihnachtsfrühling ein Dach gewachsen, und so stand offen, was zu tun war, als Gerd Strittmatter uns am berühmten vierten Zweiten vierundsiebzig anrief:

›Eure sichere Wohnung ist aufgeflogen …‹«

Jetzt kann ich Gerd Strittmatter doch nicht länger unterdrücken.

»Hör mal, Gerd: Beantworte mir zuerst eine Frage: Welchermaßen ist es mit dem Würmbungalow bestellt? Haben Georg und Marta ihn wirklich eigenhändig entworfen?«
»Eigentlich sollten Traubes auf diese Frage immer folgendermaßen antworten«, würde Gerd Strittmatter viele Jahre später auf meine Ablenkungsfrage antworten, wenn … ja, wenn … »›Das Haus haben wir schon so gekauft, aber die Umgebung haben wir selbst kreiert‹ … Na ja, makabren Spaß beiseite … Ja, im Gegensatz zu allen anderen stimmt diese Geschichte tatsächlich. Das Urbild des Würmbungalows ist die Villa Malaparte auf Capri. Übrigens auch im Jahr 1938 gebaut. Die Villa hat den Ausschlag dafür gegeben, daß ich Architektur studiert habe. Ohne Zweifel die großartigste, die je gebaut wurde, architektonisch, ›das schönste Haus der Welt‹. Dauthendey war früher mit Jean-Luc Godard befreundet. Und Godard hat uns in unserem ersten Jahr einmal für ein paar Tage zu Dreharbeiten auf Capri eingeladen. ›Die Verachtung‹, in der Villa Malaparte. Ich lernte Fritz Lang kennen, Michel Piccoli, Brigitte Bardot. Mit einundzwanzig. Und eben die Villa, Mai 63. Es war das erste und einzige Mal, daß ich in Italien war, bis … na ja … Wir waren auf Dauthendisland, auf der Privatinsel ihrer Familie, zwischen Capri und Ischia. Aber so un-

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glaublich es auf Capri war, es war ja damals so was wie der Nabel der Welt, schon damals geschah eben …«
»Nein, das muß jetzt wirklich einige Jahre warten! Marta«, würde ich sie heute fragen, wenn ich sie noch fragen könnte, ich habe sie nie gefragt, »wie hat das allererste Siedlungsritual wirklich begonnen?«
»Gerd Strittmatter überließ uns einen Lieferwagen, versicherte uns noch einmal, daß Brenninger die Grenze zur Würmsiedlung nie überschreiten werde, und innerhalb weniger Stunden räumten Georg und ich unsere unsichere Wohnung quer durch Pinzgaus Rache in den rohen Würmbungalow.

Die Siedlung war unbewohnt. Alle öffentlichen und privaten Ruinen waren verschüttet. Georg und Marta Traube, wie wir seit vier Tagen hießen, besiedelten urpärcheneinsam das neue Land. In der Abenddämmerung, da auch Brenningers Rache durch die zwielichtigen Menzinger Grenzwälder schwappte, begehrten die Ehepaare Stein und Finck Einlaß und Asyl …«

… oder ist das Gerd Strittmatters Version? Die dann auch Dauthendey und ihn selbst umfassen und die Zweinsamkeit der Siedlerpioniere nichten müßte? Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht mehr. Ob Marta, ob Gerd: Die andere Schehrezâd erzählt, daß Steins und Fincks (ob mit, ob ohne Dauthendey) nicht vor den in den Würmauen grauenden Menzingern auf das Hochplateau flohen, sondern schon an diesem Gründungsabend zu dem anbetungswürdigen Raumschiff an der Südgrenze pilgerten, wie sie es in den kommenden Wochen ritualisieren sollten. Ob Marta, ob Gerd … Ja, bei dieser Gelegenheit möchte ich euch jetzt darauf aufmerksam machen, daß bis zum Untergang der Würmsiedlung eine abweichende Version von Georgs und Martas Umzug in den Rohbau des Würmbungalows kursieren wird, im Kreis einiger Dissidenten. Wahrscheinlich war das Deichfest der Ursprung. Jedenfalls wird in dieser Abweichler-Version behauptet, daß es nicht so gewesen sei, daß Georg und Marta von Brenninger aus einer geheimen Wohnung vertrieben worden seien; es hätten sich ganz einfach die Bauarbeiten am Würmbungalow, am »größenwahnsinnigen Würmbungalow«, so verzögert, daß sie die Räumung ihrer alten Mietswohnung nicht mehr länger hinausschieben konnten. Der Würmbungalow hätte eigentlich schon im Herbst dreiundsiebzig fertig sein sollen, und als dann im Winter alle Bauarbeiten eingestellt werden mußten, wären Georg und Marta höchstens von ihrem Vermieter vertrieben worden, aber ganz sicher nicht von Toni Brenninger. Und es wurde mir

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mehrfach bestätigt, das möchte ich euch unbedingt sagen: Es wurde mir mehrfach bestätigt, daß jeder Siedler, der diese Abweichler-Version zum ersten Mal hört, sie wie einen Riß im Schleier der Maja empfindet oder wie einen Blick aus dem Bewußtseinszimmer, in dessen Wand oder Boden sich plötzlich eine Spalte auftut …

»Traubes, Steins und Fincks saßen nachtlang auf dem rohen Betonboden der Kommandobrücke, rund um ein erbarmungswürdiges Feldkocherfeuer und meinen Eintopf, aus dem ich Bouillabaisse und erstmals die Silvestergeschichte schöpfte, inmitten eines unwahrscheinlichen Echos der Silvestergeschichte das Silvesterritual erschöpfend, und erst als es tagte …«, da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. »Was ist Bouillabaisse?« »Halt die Schnauze, Klaus!« »Ihr kennt meine Version. Das hier ist alles gelogen!« Aber wie schön ist deine Erzählung, Marta, und wie entzückend und wie lieblich und wie berückend! »… erst als es tagte, bewunderten unsere Jünger unser Lebenswerk, bis wir alle von der numinosen Dachterrasse auf der Felseskalation das ultramarine Meer beherrschten und, beneidet vom internationalen Jetset, den Freundeskreis schöpften.«
»Aber beim nächsten Mal bitte wieder ausführlicher!« fleht Klaus Hornung, der den Freundeskreis so sehr um diese Ursprungserfahrungen beneidet.
»Auch bei den nächsten Malen betete ich die Silvestergeschichte, der sechsköpfige Freundeskreis, Urgruppe des homo würmiens, siedelte bis zum Deichfest einsam und gemeinsam auf dem Hochplateau, da die Ebene, darin die Reihenhausruinen Stein und Finck, von der letzten alpinen Eiszeit verwüstet war. Kurz nach Saschas Geburt setzte die Schneeschmelze ein …«

»Aber vorher kam eben noch Sascha auf die Welt«, so beschloß Marta Traube gewöhnlich die Silvestergeschichte, ob amputiert, ob ganz, »Anfang März, einen Monat zu früh und so klein und leicht, daß man ihn zuerst nicht für lebensfähig hielt, aber offenbar gesund.«
»Hätte dein Arzt mich wirklich getötet?« würde ich Marta fragen.
»Ich glaube schon. Hättest du ein Problem damit?«
»Ich nicht …«

*

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Mein Name ist Sascha Traube. Ich selbst beanstande die sonderbare Verzögerung dieser Kartenabgabe (auf Seite 152, das nennt man heute eine sonderbare Verzögerung), aber, wie ich sie treffe und mich füge, Martas Rituale wollten mich bis zu diesem Augenblick immer nicht dazu kommen lassen. (Und vor dem Ritual hätte ich eine namenlose Welt mit einem einzigen, meinem Namen entstellen müssen.) Ich, Sascha Traube, genannt »Die Spinne«, Chronist dieser Ereignisse, habe das ganze Leben darüber nachgedacht, habe sie aufgeschrieben auf die Blätter, die du, Leser, in der Hand hältst oder eines Tages halten wirst, wobei ich mich selbst als jemanden anders gesehen habe: als dritte Person des objektiven Berichts; als zweite Person des subjektiven Berichts; ja, Zeuge der Marta, ihr Beobachter und Diener; und erst jetzt, in der Abgeschiedenheit der Kammer voller Zettel, die ich in meinem Leben geschrieben, und Stimmen, denen ich gelauscht habe, auf einer Bretterpritsche sitzend, neben einem Fenster ohne Aussicht auf das Meer, ohne andere Landschaft als die nackten, kotfarbenen Stämme der Pinien Elbas, kann ich mich in meiner Einsamkeit, meinem kargen Freiraum, als erste Person betrachten: Ich, der exilierte Erzähler. Ich habe diese Ereignisse nicht miterlebt; ungeheuerlichste Ereignisse …

»An deiner Einsamkeit bist du selbst schuld!« sagt Martas Stimme, mein Ritual unterbrechend.
»Und auch an deinem Exil. Du hast bis heute nichts getan, um dein Leben zu ändern!« Das ist Anita Stein.
»Sprich mal mit Gerd.« Dauthendey. Die hat bisher noch nie was zu mir gesagt!
Das Entscheidende ist doch: Du bist gar nicht einsam. Du warst es nie. Jana Finck
Naica: Hör mir zu, Sascha …

Hör mir zu, Sultan …

Hör mir zu, Sultan!

Diese Kompilation wurde etwa vierzig Jahren veröffentlichter und unveröffentlichter Stimmen entnommen – ehrlicher wäre, zu sagen: entlockt –; ebenso vielen Fragmenten meiner gescheiterten Schreibversuche sowie in privaten und öffentlichen Archiven begrabenen, befragten, aufgelesenen, ausgespähten Zeugnissen. Hinzu kommen die Versionen, die den Quellen der mündlichen Überlieferung entstammen, und ungefähr … Stunden digital mitgeschnittener und aufgezeichneter, an ungenauen und konfusen

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Aussagen reicher Interviews mit vorgeblichen Nachkommen vorgeblicher Siedler; mit vorgeblichen Liebhabern und Geliebten der Vorsitzenden und heimlichen Herrscher, die sich stets rühmten, nichts davon zu haben; mit nicht weniger vorgeblichen und nebulösen Epigonen, Lobrednern und Verleumdern. Der Leser wird bereits bemerkt haben, daß dieser Text im Gegensatz zu den üblichen Texten zuerst gehört und gelesen und dann geschrieben wurde. Statt etwas Neues zu sagen und zu schreiben, habe ich nichts weiter getan, als getreu das bereits von anderen Gesagte und Geschriebene zu kopieren. Es gibt folglich in dieser Kompilation nicht eine einzige Seite, einen einzigen Satz, ein einziges Wort, vom Titel bis zum Schlußvers, die nicht in dieser Weise geschrieben worden sind. Und so erklärt der Ab-Schreiber, mit den Worten irgendeines abgeschriebenen Autors, daß die Geschichte, die auf dieser Reise erfahren wurde, sich auf die Tatsache beschränkt, daß die Geschichte, die auf ihr hätte erzählt werden sollen, nicht erzählt worden ist – und auch niemals erzählt werden wird! Daher besitzen die Personen und Ereignisse, die vorkommen, durch die verhängnisvolle Fügung der geschriebenen Sprache das Recht auf eine fiktive und autonome Existenz im Dienst des nicht weniger fiktiven und autonomen Lesers.

Wo hat man das gefunden? Es war an den Eingang zum Amphitheater geschlagen, Vorsitzender. (…)

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Demnächst in dieser Edition:

Gespräche im Euklidischen Raum

Hier endet das Meer, und das Land beginnt. Es regnet auf die fahlbleiche Stadt, die Wasser des Flusses ziehen lehmig trüb dahin, überflutet sind die Niederungen. Ein dunkles Schiff bewegt sich den düster schweigenden Strom hinauf, es ist ein namenloses Schiff, das am Kai der Stadt festmachen will. Ein herkunftsloses Schiff unter niemandes Flagge, das auf den Weltmeeren ausgesetzt ist, zwischen dieser Stadt und jener, ein Schiffchen auf den Meereswegen, hierhin, dorthin, immer dieselben Häfen anlaufend, in dieser oder umgekehrter Reihenfolge, und wenn es auf der Reise nicht untergeht, dann berührt es auch unsere Stadt, um schließlich in den Fluß einzufahren, so wie jetzt; sag mir, welcher Fluß der größte ist und welcher Ort. Das Schiff ist nicht groß, vierzehn Millionen Tonnen, doch es hält sich gut auf dem Meer, wie es einmal auf der Überfahrt beweisen konnte, als trotz Sturms und ständig bösen Windes nur den Möwen übel wurde und jenen Seemenschen, die einem hoffnungslos empfindlichen Magen gehorchen müssen, und weil das Innere des Schiffes so häuslich und so gemütlich ist, erhielt es liebevoll, ebenso wie seine Schwester, die ebenso namenlos ist und ohne Herkunft, den Beinamen Familienschiff. Auf offener See waren Meer und Himmel nahtlos zusammengeschweißt, als Funda- und Firmament, das Nurmehr der Urmeere …

Wie wenn es aus dem Nebel gekommen wäre, so wurde das schöne Schiff plötzlich sichtbar. Zwei kleine Schleppboote, hinten und vorn dem Schiff vertäut, brachten es an die Kaimauer.

An heiteren Tagen ist das Familienschiff ein Park für Kinder und ein Paradies der Alten, heute allerdings nicht, denn es regnet, und einen anderen Tag werden wir an Bord nicht mehr erleben. Durch die von Salzwasser getrübten Fensternisse schauen die Kinder auf die graue Stadt, die sich flach auf den Hügeln ausbreitet, als wäre sie nur aus erdnahen Häusern erbaut, verloren erhebt sich ein Kirchturm, ein Mansarddach, eine Silhouette, wohl die einer Burgruine, falls nicht alles eine Illusion ist, eine Täuschung der Sinne, eine Luftspiegelung, hervorgerufen durch wallende Regenschleier, die vom bedeckten Himmel herabfallen. Die weltfremden Kinder, von der See am verschwenderischsten mit der Sehnsucht nach dem Heil ausgestattet, wollen wissen, wie diese Stadt heißt, und die Eltern sagen es ihnen, oder die Ammen, die nurses, bonnes, Fräuleins oder ein Matrose, der die Meere aller Zonen befragt hat und kurz vor dem Anlege-

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manöver herbeieilt, Vorbereitung und Ausfahrt und Paradiso, drei verschiedene Arten der Benennung, von den indirekten und ungenauen abgesehen, so erfuhren die Kinder, was ihnen bisher unbekannt gewesen war, und doch wußten sie nun genausoviel wie zuvor, nichts, einen Namen, nur halbrichtig ausgesprochen, was die jungen Geister noch mehr verwirrte, mit dem eigenen Akzent der Landmenschen, wenn es sich um diese handelte, oder der Seemenschen, fremd dem gemeinen Ohr und der Schreibweise. Auf dem Kai würden noch ungewöhnliche Dinge sich abspielen, meinten sie. Nein. Die sabbernden Versuche, über Worte hinauszugehen, ließen das Gerede nach und nach zerfasern. Nichts geschah.

Wenn morgen früh das namenlose Schwesterschiff dem Land für Ewigkeit Lebewohl sagt, die Mole noch in Sichtweite, sollte es wenigstens etwas Sonne geben und weniger grauen Nebel, damit die unnatürliche Finsternis das vergängliche Gedächtnis der Reisenden nicht völlig trüben möge, jener Kinder, die zum erstenmal hierhergekommen sind, den Namen wiederholen und ihn auf ihre Art in einen anderen umwandeln, jener Erwachsenen, die die Brauen runzeln und bei der allgegenwärtigen Feuchtigkeit frösteln, die Holz und Eisen überzieht, als wäre das Schiff aus der Meerestiefe emporgetaucht, ein Schiff, zwiefach Phantasma. Weder auf Wunsch noch aus reinem Vergnügen würde jemand in diesem ewigen Hafen bleiben wollen.

Nur wenige werden an Land gehen. Das Schiff hat angelegt, die Frist ist um, gleich wird die Gangway heruntergelassen, ohne Eile zeigen sich unten die Gepäckträger und Schauerleute, die diensthabenden Hafenpolizisten verlassen Wetterdächer oder Wächterhäuschen, Zöllner tauchen auf. Der Regen hat nachgelassen, kaum daß es noch nieselt. Oben an der Gangway sammeln sich die Reisenden, sie zögern, als glaubten sie nicht, von Bord gehen zu dürfen, als fürchteten sie eine Quarantäne oder die schlüpfrigen Stufen, doch was sie verschüchtert, ist die Stille der Stadt, vielleicht sind die Bewohner alle tot, und der Regen fällt nur, um in Schlamm aufzulösen, was noch stehengeblieben ist. Entlang dem Kai schimmert es matt durch die Fensternisse anderer Schiffe, die hier festgemacht haben, die Ladebäume gleichen nackten schwarzen Ästen, die Kräne stehen still. Es ist der letzte Tag oder der erste. Jenseits der großen Speicher am Kai beginnt die düstere Stadt, zurückgezogen hinter Fassaden und Mauern, vorläufig noch vor dem Regen geschützt, gelegentlich einen traurigen Vorhang aus den Tüllbahnen eines Moskitonetzes bewegend, schaut sie mit vagem Blick nach draußen, hört das Wasser über die Dächer plätschern, die Traufen hinunter, bis zur Bodenrinne aus Basalt, über das ausgespülte Pflaster der Gehwege zu den vollen Gullies, von denen sich bald hier, bald dort der Deckel durch die Überschwemmung hebt.

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Unterdessen war das Schiff vertäut. Ein Herr, den ein heller Überrock umflatterte, mit einem braunen runden Hut auf dem Kopfe, kam eilends auf der Kaimauer daher. Die Zollbeamten traten zurück, legten grüßend die Hand an die Mütze, sagten noch zu den zufälligen sachverständigen Herren, um ihre Allwissenheit zu beweisen: »Der Reedner.« Dann zogen sie sich zurück.

Der Mann im hellen Überrock schwang sich über die Reling des Schiffes. Ein paar Matrosen, die umherstanden, schauten unschlüssig auf ihn. Er fragte nicht nach dem Kapitän, sondern verschwand wortlos in einer Hüttentür. Er kennt dies Schiff.

Die ersten Passagiere steigen voll Überdruß hinunter, die Rücken unter dem monotonen Regen gebeugt. Sie tragen Säcke und Handköfferchen, es umgibt sie ein Hauch von Verlassenheit, gleich jenen, die die Reise wie einen Traum voll flüchtiger Bilder erlebten, zwischen Meer und Himmel, der Bug im Auf und Ab, im Gleichtakt eines Metronoms, das Balancieren der Welle, der hypnotisierende Horizont, als die stürzenden und steigenden Wassermassen sich schließlich derart ineinander vermischt hatten, daß man das Meer nicht mehr vor Augen sehen konnte, als droben hoch der noch unbenannte Himmel, als drunten das noch namenlose Feste, das urunwesenhaft wassernd der Absud, der sumpfend wiesig dumpfe, sich – nicht, anders

Reisen, das ist mal was Nützliches, da kriegt die Sprache zu tun. Alles andere bringt nichts als Enttäuschungen und Mühsal. Unsere Reise hier findet ganz und gar in fremder Sprache statt. Das ist ihre Stärke.

Sie führt vom Leben zum Tod. Menschen, Maschinen, Städte und Dinge, alles ist abgeschrieben.

Und außerdem kann jeder es halten, wie er will. Man braucht nur die Augen zuzumachen.

Es ist auf der anderen Seite des Lebens.

Ihre Hand zog die Tüllbahnen des Moskitonetzes auseinander, tastete und drückte sanft, als befühle sie einen Schwamm und nicht die erste Inkarnation des Fähnrichs, der jetzt in der Brise des Walfischkaps steht, kurz bevor die kleinen Stein- und Eisenkugeln ihn an Brust und Kopf treffen, abgeschossen aus den Arkebusen, die sich in Kürze mit der Flut nähern werden. Er wird in der Blüte seiner Jugend sterben, ohne eine Frau erkannt noch irgend etwas Erinnernswertes geleistet zu haben. Sicherlich ruht seine Vorstellungskraft, während er hier die vor seinem Tod wehende Brise genießt, denn er hat nicht genug gelebt, um davon zehren zu können, wie es dagegen bis heute die Hochbetagten in seiner Heimat tun, alle viel zu alt, um auch nur das Geringste noch selbst erleben zu wollen, und nun kauern sie da und phantasieren mit ihren drei Handbreit langen Pfeifen vor sich hin, umringt von den gebannt lauschenden

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Jüngeren, und lügen das Blaue vom Himmel herunter. Man sollte sich da keine Illusionen machen, die Leute haben einander nichts zu sagen, sie reden jeder nur über das eigene Leid, das ist nichts Neues. Jeder für sich und die Erde für alle. Und vielleicht fehlt nur eine Minute, vielleicht weniger, bis die Arkebusen unter der starken Wintersonne in der Bucht aller Heiligen erscheinen und jene Eisen- und Steinkügelchen über ihn ausschwärmen lassen, die ihn unter großen Schmerzen töten werden: ihm ein Auge durchbohren, ihm die Schädelknochen zertrümmern und ihn in einer verklärten Selbstumarmung nach vorne kippen lassen, ohne daß er an seinen Tod auch nur denken kann. Das Bild »Der Fähnrich predigt den Möwen« zeigt auf einem durch die Luft segelnden Blättchen das Datum, das niemand mehr entziffern kann; auf der einen Seite ist es vom Schnabel einer Möwe gehalten, auf der anderen von der Spitze einer mit den Farben und Wappenzeichen der Freiheit geschmückten Lanze. Schon tödlich getroffen, raffte er sich hoch, mit dem einen über den Bart herabtriefenden Auge, und predigte den Möwen, die eben noch umhergeschwärmt waren, jetzt aber über den Briggs und Walfischbooten des Kommandanten kreisten. Er richtete nicht einen, sondern viele berühmte Sätze an sie, »Alles fließt! Alles fließt!«, mit bebender, aber stentorhafter Stimme, die seither immer in Hörsälen und Klassenzimmern nachgeahmt wird oder sonst bei offiziellen Anlässen, wo es Reden anzuhören gilt. Denn wenn es nach dem Geschoßhagel dort nur noch Sturmvögel gab, Südwind, den Ozean und den Gleichmut der Naturvorgänge, so blieb doch genug, damit sich für alle Zeiten dem Bewußtsein der Menschheit die Worte einprägten, die er jetzt ausspricht, obwohl man sie von hier aus nicht hört, selbst aus größerer Nähe nicht, auch sieht man seine Lippen sich nicht bewegen, noch ist in seinem Gesicht mehr wahrzunehmen als der verblüffte Ausdruck dessen, der stirbt und es nicht weiß.

Es sind aber hehre Worte gegen Tyrannei und Unterdrückung, dem Fähnrich vom Tod ins Ohr geblasen, und daher sind sie wahr.

Der war völlig durchgedreht, dieser Schriftsteller … Wissen Sie, was der seit über einem Erdzeitalter schrie? »Alles fließt! … Alles fließt!« So ging das ununterbrochen, durchs ganze All! Der war hinüber … Das war mal klar … Der war auf die Rückseite der Intelligenz gewechselt! Der hatte wieder begonnen, mit geschlossenen Augen zu träumen.

Garamond edizioni S. p. A. Milano 2029

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Ende von Band 6. Um die fehlenden Abschnitte zu lesen, wechseln Sie bitte zum Abo-Zugang.

Band 7: singularität