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»Das Geschichte gewordene Unbewußte«

Im Vorfeld der Veröffentlichung des lyrisch-musikalischen Podcasts »Die Stadt und das Paar« auf Literatur.Review wurde ein Interview mit dem Autor der so betitelten Gedichtfolge geführt, mit Stefan Grosser, der »Die Stadt und das Paar« seinem work in progress »homo sapiens. Bericht eines Schiffbrüchigen« entnommen hat, einem neunbändigen und mehrtausendseitigen Epos über den Schiffbruch des modernen Menschen. Um den Hörern des Podcasts und den Lesern dieser Website einen Einblick zu gewähren in Konzeption und Komposition der monumentalen Dystopie des »homo sapiens« soll dieses Interview hier in zwei Teilen dokumentiert werden.

Das Gespräch fand statt am 17. Mai 2024 in München, im heimischen Arbeitszimmer von Stefan Grosser, inmitten seiner Bibliothek. Es begann gegen 16:30 Uhr:

P.A.M.: Du hast erzählt, daß du an einem mehrbändigen Epos arbeitest. Wie lange arbeitest du schon daran?

S.G.: Wenn ich von den allerersten Anfängen rechne, sind es 31 oder 32 Jahre … 31 Jahre.

P.A.M.: 31 Jahre?

S.G.: 31 Jahre, ja.

P.A.M.: Und wie alt bist du?

S.G.: Ich werde jetzt 52.

P.A.M.: Das heißt, du warst wie alt, als du …

S.G.: Das muß 1993 gewesen sein. Also war ich 21.

P.A.M.: Und wußtest du von Anfang an, daß das etwas Längeres wird, oder hat sich das im Laufe der Arbeit entwickelt?

S.G.: So, wie es jetzt dasteht, hat es sich tatsächlich im Laufe der Arbeit langsam entwickelt. Es hat schon mit einem größeren Vorhaben begonnen, das jetzt auch tatsächlich Band 1 des 9-bändigen Opus bildet, zu dem alles angewachsen ist, und dieses Vorhaben war von Anfang an konzipiert als ein ziemlich groß angelegter Endzeitroman, der mich damals aber erst einmal noch ein bißchen überfordert hat. Es war zuerst aber als ein einzelner Roman geplant. Als ich damit dann nicht richtig weiterkam, habe ich anderes geschrieben, kürzere Texte aus meiner eigenen Erfahrung, aus dem Milieu, aus dem ich komme, und in der damaligen Jetztzeit spielend, was mich aber nicht wirklich befriedigt hat. Ich hatte das Gefühl, daß ein Zentrum fehlt oder ein Anker, und irgendwann kam ich dann auf die Idee, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen den kleineren Texten und dem großen Endzeitroman, der auf den ersten Blick etwas völlig anderes zu entwerfen schien, und daß ich das scheinbar Unzusammenhängende verbinden sollte. Und daraus erwuchs dann Stück für Stück diese große Konzeption, die jetzt zu 9 Bänden angewachsen ist.

P.A.M.: Wußtes du im 3. Jahr schon, daß das 9 Bände sind?

S.G.: Nein.

P.A.M.: Heute weißt du, es sind 9 Bände, es hätten zwischenzeitlich aber auch mal 7 oder 5 sein können.

S.G.: So ist es.

P.A.M.: Und bist du denn jetzt in einem Stadium, daß du sagen könntest, was die Grundidee ist?

S.G.: Also, es sind ja ungefähr 80 bis 85 Prozent des Gesamtwerkes fertig, und so kann ich selbstverständlich die Grundidee skizzieren. Man müßte sie allerdings aus zwei verschiedenen Perspektiven beschreiben, je nachdem, welchen Ausgangspunkt man wählt. Wenn ich mit meiner Betrachtung des Gesamtwerkes bei Band 1 beginne, wie wir es jetzt gerade auch gemacht haben, dann bilden Band 1 und Band 9, der an das Ende von Band 1 anknüpft, eine Rahmenhandlung, eben jenes erwähnte apokalyptische Endzeitszenario, und die Bände dazwischen, Band 2 bis 8, handeln davon, wie es zu dieser Apokalypse kommen konnte. Es ist aber so, daß das Gesamtwerk von Band 2 bis 8 plus Rahmenhandlung keine fortlaufende chronologische Geschichte erzählt und auch keine Endzeitgeschichte, wie man sie sich heute vielleicht am ehesten vorstellen würde, eine ökologische Katastrophe oder dergleichen, sondern es wird ein äußerlich, d. h. historisch und politisch, völlig unplausibles Szenario erzählt. Mein Interesse gilt tiefenpsychologischen und vernunftgeschichtlichen Entwicklungen des Menschen, des europäischen Menschen müßte ich wohl sagen, und so entwickelt sich die Apokalypse, die in der Rahmenhandlung manifest wird, zunächst, also eben in der Binnenhandlung der Bände 2 bis 8, auf unterschwelligen Ebenen, die Ursprünge des Untergangs bleiben implizit und latent. Und das bringt mich dann zu der anderen Perspektive auf das Ganze: wenn ich nämlich nicht von der Rahmenhandlung ausgehe, sondern von der Binnenhandlung. Die Bände 2 bis 8 entwerfen ein Panorama eines bundesrepublikanischen Milieus aus den letzten 3 Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, das auf den ersten Blick überhaupt nichts mit der Rahmenhandlung zu tun hat, aber im Lichte des ganzen aufgefächerten Panoramas erscheint die Rahmenhandlung plötzlich nicht mehr wie ein unplausibles Endzeitszenario, sondern bekommt einen völlig anderen Charakter, offenbart sozusagen seine wahre Bedeutung. Ich würde sagen: Das Endzeitszenario ist gewissermaßen das Geschichte gewordene, als Dystopie manifestierte Unbewußte dieses Milieus, das ich in den Bänden 2 bis 8 darstelle.

P.A.M: Verstehe.

S.G.: Ich habe einen speziellen Begriff kreiert für dieses Milieu, für den ich schon hohes Lob bekommen habe, von Helmut Lethen, der einmal einen sehr kleinen Teil gelesen hat. Ich habe es das »Mittelbürgertum« genannt, zwischen dem Klein- und dem Großbürgertum und angelehnt an die »Mittelschicht«: das bundesrepublikanische Mittelbürgertum. Also würde ich sagen: Am ehesten geht es in dem ganzen 9-bändigen Werk um das bundesrepublikanische Mittelbürgertum aus den letzten 3 Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, und es geht um tiefenpsychologische, vernunftgeschichtliche und mentalitätsgeschichtliche Entwicklungen, die in der Binnenerzählung anheben und in der Rahmenerzählung kulminieren und dort noch einmal einen völlig verwandelten, ihren endgültigen Ausdruck und Höhepunkt finden.

P.A.M.: Das heißt also, ich erfahre dann als Leser die Geschichte deiner Protagonisten über einen Zeitraum von 30 Jahren.

S.G.: Ja, allerdings habe ich ja schon erwähnt, daß es sich nicht um eine fortlaufende Geschichte handelt. Auch die Binnenhandlung erzählt keine von Band 2 bis 8 fortlaufende Geschichte. Der zweite große Roman im Gesamtwerk, »homo fluidus oder das Schöpfungsspiel«, Band 6 ist das, glaube ich, erzählt in sich die ungefähr 30 Jahre der Protagonisten. In den anderen Bänden werden ähnliche und auch gleiche Konstellationen in immer wieder neuen Perspektiven erzählt, es gibt kurze Erzählungen, es gibt ein längeres literarisches Fragment, es gibt Gedichte, Essays, Aphorismen, Collagen, Dialoge, es werden eigentlich alle Textarten aufgefahren, um von allen denkbaren Perspektiven dieses Milieu zu beleuchten. Es gibt also viele fortlaufende Geschichten, es gibt auch Figuren, Protagonisten, die immer wiederkehren, aber eben nicht eine fortlaufende, linear erzählte Geschichte von Band 2 bis 8.

P.A.M.: Du hast am Anfang gesagt, es gäbe irgeneine Katastrophe, mit der man nicht gerechnet hätte. Kannst du irgendetwas dazu sagen?

S.G.: Die Katastrophe ist eine totale kriegerische Zerstörung.

P.A.M.: Das heißt, es gibt Kriege in Europa.

S.G.: Letzlich global.

P.A.M.: Die globale Ordnung, wie wir sie kennen, existiert nicht mehr, verändert sich. Und jetzt hast du vorhin gesagt, diese Dystopie wäre sozusagen eine Manifestation des Unbewußten. Nehmen wir mal an, du wärst jetzt ein Therapeut: Was für eine Diagnose würdest du denn diesen Personen, die wir ja noch gar nicht näher kennengelernt haben, stellen? Was hatten die vor 30 Jahren, was war deren Problem?

S.G.: Also, ich würde jetzt wirklich ungern mit irgendwelchen psychiatrischen Kennziffern hantieren. Und es soll auch nicht der Eindruck enstehen, meine Protagonisten seien krank oder irgendwie schwer therapiebedürftig … Da spielt natürlich extrem vieles mit hinein. Um einmal bei den globalen Kriegen zu bleiben und der Frage, warum diese apokalyptische Dystopie eine Manifestation des Unbewußten meiner mittelbürgerlichen Protagonisten sein sollte: Die globalen Kriege haben letztlich ihren Ursprung in einer haltlosen Sehnsucht der Mittelbürger nach Gemeinschaft. Diese Sehnsucht breitet sich bösartig, sozusagen in konzentrischen Kreisen aus vom Liebespaar über die kleine Kernfamilie, deren Freundeskreis bis zur gemeinsam gegründeten Neubausiedlung, die das finale Ziel der Sehnsucht zu sein scheint und sich zu einem Mikrostaat entwickelt, und auf allen diesen sich erweiternden Ebenen führt die unstillbare Sehnsucht zu einer Extremisierung nach Innen und einer agressiven Abgrenzung gegen ein feindlich empfundenes Außen. Und das setzt sich schließlich bis auf eine globale Ebene fort, wo all diese unbewußten Sehnsüchte und Ängste die Apokalypse heraufbeschwören. Am Ende des 1. Bandes, an das dann der 9. Band wieder anknüpft, ist die Menschheit zum ersten Mal in ihrer Geschichte unter einer Weltregierung vereint, was aber kein utopisches, sondern ein dystopisches Szenario ist, das unmittelbar in den Weltkrieg mündet. Das ist dann die globale Konsequenz aus dem Mittelbürgertum mit seinen kleinen bösartigen Gemeinschaften, aber es hat eben mehr den Charakter eines Traums, in dem das Unbewußte plötzlich in grotesker Gestalt vor Augen steht, als einer realistischen Zukunftsprojektion.

Ende des 1. Teils. Die Fortsetzung finden Sie hier: »Die Kunst blickt hinter den Ereignishorizont«